Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe - Heitmann, T: Schattenschwingen - Die dunkle Seite der Liebe
Hände, in denen ich einen schneidenden Schmerz fühlte, obwohl sie nicht bluteten.
»Was geschieht mit Lena? Eben war doch alles gut.« Ranuken wirkte mindestens genauso entsetzt wie ich.
Lenas Gesicht war aschfahl, ihre Züge verzerrt, während ihr Mund zu einem Oh erstarrt war. Einzig ihre Finger bewegten
sich. Sie krallten sich krampfartig in ihren Pulli. Es sah aus, als hätte der Schock ihre Lebensfunktionen gelähmt, als hätten sowohl ihre Lungen als auch ihr Herz die Arbeit eingestellt. In der Sekunde, in der Mila den Blick von Nikolai wandte und den Zustand ihrer Freundin bemerkte, erlosch Nikolais Aura. Mit aller Kraft riss ich ihn von Lena fort und schleuderte ihn beiseite. Wie eine Katze kam er sofort wieder auf die Beine und schaute sich verwirrt um.
»Was ist passiert?« Seine Lider flackerten und ehe ich mich ihm nähern konnte, hatte er seine Schwingen geöffnet und war aufgestiegen. »Das war ich nicht! Ich wollte es gutmachen, dem Mädchen ein schönes Gefühl schenken, und dann …«
Ich wartete Nikolais Erklärung nicht ab, sondern zerrte das Basketball-Shirt über meinen Kopf. Meine Schwingen, die unter meiner Haut pulsiert hatten, brachen hervor.
Ich fing Nikolai mitten im Flug ab. So hart ich konnte, packte ich ihn und zog ihn mit mir aufs offene Meer. So weit hinaus, dass die Küste hinter dem Horizont verschwand. Ich konzentrierte mich auf Ranuken, der mich bereitwillig in seine Gedanken eintreten ließ. Ihr Herz schlägt wieder, ich kann es spüren! Sie wird es schaffen … irgendwie.
Auf Nikolais Zügen spiegelte sich reine Fassungslosigkeit und Verwirrung. »Samuel …«, setzte er stockend an.
Mir war es jedoch gleichgültig, was er zu sagen hatte. »Es war ein Fehler, dir zu vertrauen.«
Die grauen Augen blickten nicht länger verzweifelt, sondern wütend. Nikolai hatte Ähnlichkeit mit einem Hund, den man in die Ecke gedrängt hat. »Wenn du das glaubst, dann weißt du gar nichts. Ich sage dir doch, ich war das nicht. Du weißt nichts, gar nichts über das, was gerade passiert ist.«
»Das musste ich mir in der letzten Zeit schon häufiger anhören. Ich weiß nicht viel, einverstanden. Aber eins weiß ich ganz genau: dass du jetzt baden gehst, Nikolai.«
Vollkommen außer sich versuchte er sich aus meinem Griff zu winden, doch damit hatte ich gerechnet. Kurz spürte ich noch dem Wind für den optimalen Winkel nach, dann setzte ich mit einem um sich schlagenden Nikolai zum Sinkflug an. Als ich den Wasserspiegel berührte, flammten die Zeichen in meinem Unterarm schmerzhaft auf und für einen Herzschlag glaubte ich mich wieder in dem Kokon gefangen. Abgeschnitten von mir selbst und von der Welt. Dann zerstob das Gefühl auch schon und die Sphäre hieß mich willkommen, während Mila in einer anderen Welt wahrscheinlich gerade ihre bewusstlose Freundin im Arm hielt.
19
Nachspiel
Die Ruine lag verlassen da.
Noch vor Kurzem hatte ich sie ausgewählt, weil sie einst von Menschen in der Sphäre erbaut worden war und ich für Mila ein Zuhause schaffen wollte. Ich hatte mich außerdem für diesen Ort entschieden, weil ich mich ihm verbunden fühlte – sowohl in der Sphäre als auch in der Menschenwelt. Ein Platz auf den Klippen, die zum freien Flug einluden, und das Lied des Meeres stets um mich. So hatte ich die Ruine gesehen. Das hatte sich grundlegend geändert. In der Zwischenzeit war die Ruine zum Schauplatz verschiedenster Geschehnisse geworden. Sie gehörte nicht mehr mir und Mila, die vermutlich jedes Mal eine Gänsehaut bekam, wenn sie an den halb eingestürzten Turm dachte. Dabei hatte sie zu Beginn, als ihr die Sphäre noch als fremder, aber doch annehmbarer Ort erschienen war, sogar Kletterrosen neben seiner Eingangstür pflanzen wollen. Jetzt war es der Platz, an dem die Schattenschwingen ihre Versammlungen abhielten.
Das Gras auf dem Vorplatz war niedergedrückt von der letzten Versammlung, die ich wieder einmal verpasst hatte. Nicht dass ich befürchtete, mir könnte allzu viel entgangen sein. Während der Rat sich selbst zerfleischte, passierten die entscheidenden Dinge schließlich woanders. Als ich eben in die Sphäre eingetreten war, war ich sofort von der Aufforderung begrüßt worden, mich umgehend mit einem der Älteren
in Kontakt zu setzen. Einen rumkommandieren, das war auch das Einzige, was sie hinbekamen. Genervt hatte ich die Aufforderung unbeantwortet verklingen lassen. Ich hatte wirklich andere Sorgen.
»Das war nicht angemessen«, teilte mir ein
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