Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
auf ihn nimmt.«
Unwillkürlich ertastete ich die sternförmige Narbe auf meiner Brust, zeichnete die tiefen Furchen in meiner Haut nach, die mir trotz ihrer Empfindlichkeit unendlich lieber waren als das vollendete Zeichen, das meinen Willen so weit verstümmelt hätte, bis nichts von ihm übrig geblieben wäre. Von Anfang an war es Nikolais Ziel gewesen, einen Sklaven aus mir zu machen. Schon als ich noch als Junge im Haus meines Vaters lebte und keine Ahnung davon hatte, dass zwei Schwingen in mir darauf warteten, endlich hervorzubrechen.
Shirins Aura flackerte so weit auf, dass ich im Licht ihre zerfurchte Stirn erkannte. »Sein Name und sein Gesicht haben sich verändert, aber das war es auch schon. Er will immer noch alles, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Das überlässt er den anderen«, sagte sie voller Bitterkeit. »So gesehen ist es kein Wunder, dass er dich unbedingt als Bollwerk zwischen Mila und sich haben wollte: Er braucht dich, um von Mila zu nehmen, ohne sie zu berühren. Denn damit würde er zulassen, dass sie ihn ebenso beeinflusst wie er sie.«
»Glaub mir, Nikolai hat keine Angst davor, Mila zu berühren. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte er seine Arme so fest um ihren Körper geschlungen, dass ich jeden Moment damit rechnete, ihre Rippen knacken zu hören.«
»Hier in der Menschenwelt braucht ihn das nicht zu kümmern, in der Sphäre hingegen sieht es anders aus. Er wird bei der Zerstörung der Aschepforte Verletzungen davongetragen haben, also wird er sie nicht länger als nötig aus den Augen lassen, denn er braucht sie. Dadurch wird sie zu einem ständigen Quell der Versuchung. Hast du denn schon vergessen, wie es sich anfühlt, in unserer Welt einen Sterblichen zu berühren?«
Ich brachte die Antwort nicht über meine Lippen. Jede Faser meines Körpers erzählte davon, wie es war, meine Hände auf Mila zu legen, während wir in meiner Heimat waren. Die einzigartige Magie, die sich dabei entspann, war unbeschreiblich.
»Was auch immer Kastor ihm angetan hat, er wird mehr als bloß geschwächt sein«, brachte ich gequält hervor. »Du hast den Nachhall der Zerstörung nicht aus der Nähe zu spüren bekommen, aber ich. Nikolai wird Milas Berührung keinesfalls widerstehen, denn er wird sie brauchen. Sie ist alles, was er hat, um seine Kraft wiederzuerlangen.«
Mir wurde schlagartig so übel, dass ich mich auf meinen Oberschenkeln abstützen musste. Wunden verheilten, sogar seelische, wenn die Zeit und die Umstände entsprechend waren. Aber eine erzwungene Berührung durch jemanden, den man hasste … wie würde Mila damit zurechtkommen?
Rufus’ Hand auf meiner Schulter holte mich aus meiner Benommenheit. Alles Machomäßige an seinem Auftritt war gewichen. »Ihr sagt, dass Nikolai Mila gegen ihren Willen berührt … Heißt das, dass er … Mila … vergewaltigt?«
Ein beschwichtigendes »Nein« wollte über meine Zunge, aber es hätte aus Schattenschwingensicht nicht wirklich der Wahrheit entsprochen. Also suchte ich nach den richtigen Worten, obgleich es mir unerträglich war. »Die Berührung zwischen Mensch und Schattenschwinge in der Sphäre stellt eine Verbindung her, die weit über das Körperliche hinausgeht. Mila wird sich nicht vor Nikolai verschließen können, wenn er es drauf anlegt. Welchen Schaden er dabei anrichtet, kann ich nicht sagen, aber es ist eine Unterwerfung ihres Wesens und kommt einer Vergewaltigung äußerst nah. Wenn sich die beiden gemeinsam auf die Berührung einließen, würde es zu einer Vereinigung kommen, wie sie früher die Basis für das Zusammenleben unserer Welten gebildet hat.« Mir stockte die Stimme, als ich beschrieb, was ich mir eigentlich für Mila und mich wünschte … und was nun womöglich durch Nikolai unmöglich geworden war.
Einen Augenblick lang stand Rufus wie erstarrt da, dann streifte er seine Stiefel ab und ging auf die Brandung zu, die in Nebel und Dunkelheit lag. Es wäre zwar einfacher gewesen, aufs Meer hinauszufliegen und mit einem Sturzflug in die Pforte einzutreten, aber ich hielt ihn nicht zurück, denn auch ich sehnte mich nach dem Wasser, dessen Kälte einem ins Fleisch schnitt und einen alles andere vergessen machte. Rasch nahm ich das Katana auf, dann folgte ich ihm mit Shirin an meiner Seite. Erst als die Wellen meine Hüften umtanzten, rief ich: »Das reicht, tiefer müssen wir nicht.«
Rufus blieb stehen, die Schultern wegen der Kälte hochgezogen. Langsam drehte er sich um und warf einen
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