Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Wirklichkeit jung und unerfahren fand. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie sehr Kastor mir fehlte. Er hätte gewusst, wie dieser eigensinnigen Schattenschwinge beizukommen war, ohne ihren Stolz zu verletzen. »Ich verstehe ja, dass du Nikolai, nach allem, was er dir angetan hat, gegenübertreten willst. Und ich brauche dein Wissen – ohne Frage. Aber wir sprechen keineswegs über ein uneinschätzbares Risiko, wir wissen beide, was geschieht, wenn die Klinge in deinem Körper mehr oder weniger hüllenlos eine Pforte passiert. Kastor hat es uns gesagt, und er meinte es ernst, ansonsten hätte er wohl kaum wochenlang an deiner Seite in der Menschenwelt ausgeharrt.«
Als ich Kastors Namen laut aussprach, wurde es in der Sternwarte schlagartig still. Für einen Augenblick war es, als stünde er wahrhaftig zwischen uns, ein schweigsamer Geist, dessen Feuer zwar erloschen war, nicht aber die Erinnerung an ihn. Dann lenkte Shirin ein. Mit Mühe verbarg ich meine Erleichterung, während ich das Katana begrüßte. Ja, ich brauchte sie an meiner Seite, wenn ich Nikolai gegenübertrat, ich brauchte sie mehr als das Leuchten meiner Aura, denn Shirin war außer mir die Einzige, der es schon einmal beinahe gelungen war, ihn zu töten. Zusammen würde es uns dieses Mal vielleicht gelingen, ihn endlich und endgültig auszulöschen.
Nachdem ich mich einigermaßen von dem Eingriff erholt hatte und Shirin sicher auf den Beinen war, brachen wir mit Rufus zur Küste auf. Dort wollten wir Asami und Ranuken treffen, um gemeinsam durch den Meeresspiegel in die Sphäre einzukehren.
Rufus war ungewöhnlich schweigsam, als würde die Ungeduld, die in ihm brodelte, ihn ansonsten zerreißen. Seit wir am Strand angekommen waren, hielt er merklich Abstand zu Shirin und mir. Unentwegt mühte er sich mit einem Lagerfeuer aus Treibholz ab, ohne große Erfolge zu erzielen. Es hatte ihn zweifelsohne überfordert, Zeuge zu werden, wie ich meine inneren Quellen öffnete und Shirin anschließend in meine Aura tauchte. Nicht mehr lange, und der Morgen würde anbrechen, doch jetzt herrschte noch Nacht.
Als Treffpunkt an der Küste hatte ich jenen Platz ausgesucht, an dem ich Mila an ihrem sechzehnten Geburtstag davor bewahrt hatte, ins nächtliche Wasser zu gehen. Die Verzweiflung, die sie damals umgab, hatte mich fast gelähmt, während ihr Wunsch, sich den Fluten zu übergeben, für mich genauso lesbar gewesen war, als wäre es mein eigener. Dann hatte ich sie angesprochen, den Arm nach ihr ausgestreckt und sie zu mir geholt. So einfach würde es dieses Mal nicht sein – nicht nach sechs Tagen unter Nikolais Einfluss. Von einer dunklen Vorahnung heimgesucht, sah ich zu den Klippen hinüber, obwohl sie sich kaum in der Dunkelheit abzeichneten. Der Himmel war dicht bewölkt und sternenlos, während das Meer einer einzigen schwarzen Woge glich, deren unablässiges Murmeln mir vertraut in den Ohren klang. Dunst lag über dem Strand und hinterließ einen kühlen Film auf meinen erhitzten Wangen und nackten Schultern. Ich hatte Hakama und Obi angelegt, um das Katana sicher an meiner Seite unterzubringen.
»Was wird er Mila antun?«, fragte ich Shirin, deren Aurenschein ein diesiges Licht hervorrief. Viel war das nicht, aber schon deutlich besser als zuvor. Sie stand neben mir, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihr Frösteln war keine Überraschung, die Strapazen der letzten Stunden hatten sie sichtlich mitgenommen. Und doch hatte sie ihre Schwingen geöffnet, die in der Nacht noch schlechter auszumachen waren als ihre dunkle Gestalt. Sie waren nur noch ein Schatten ihrer früheren Pracht. Zwei Schwingen aus dunklem Rauch, die sie kaum tragen würden.
»Willst du das wirklich wissen, Samuel? Oder geht es dir bei dieser Frage nur darum, dich zu quälen, weil du Mila noch nicht befreit hast und dir die Schuld daran gibst?«
Ich dachte darüber nach und beschloss, die Antwort lieber für mich zu behalten. »Ich bin nervös«, erklärte ich stattdessen. Das unruhige Summen des Rings war daran nicht unschuldig. Seit Asami in die Sphäre gewechselt war, bekam ich in schönster Regelmäßigkeit Stromschläge, als würde die Verbindung zwischen uns ständig unterbrochen, um dann erneut zu zünden. »Wir warten schon viel zu lange darauf, dass Ranuken und Asami zurückkehren. Da ist bestimmt was schiefgegangen.«
»Das wüsstest du, also hör endlich auf, dich selbst zu belügen.« Shirin umfasste mit einem erstaunlich harten Griff meine beringte Hand.
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