Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
… mir in Lucas Wohnwagen folgte … die Nacht, in der wir gemeinsam das Katana prägten.
Gemeinsam.
Die Klinge trug eine Spur von Mila in sich.
Ich hatte meinen Schlüssel gefunden.
»Shirin, wenn man Silber hauchfein ausbreitet, bis es wie blank poliert ist, was wird es einem dann zeigen?«, fragte ich, während ich das Katana ausrichtete. Die Bernsteinklinge leuchtete in tiefem Goldrot auf, als ich ihren Namen rief.
»Eine solche Fläche würde ihr Gegenüber spiegeln.« Dann schnappte sie nach Luft, als sie begriff, worauf ich hinauswollte. »In diesem Fall würde sie Wolken zeigen: eine unendliche Fülle von Wolken. Samuel, du hast das Rätsel gelöst: Es ist ein Spiegel, er versteckt sich hinter einem Spiegel.«
Ich vertiefte mich in den Bernstein, in den ein Teil von Mila eingeprägt war. »Zeig dich mir«, forderte ich. Vor meinem inneren Auge verdichtete sich ein Bild, eine flammend rote Erscheinung, die immer wieder von Silber verschlungen wurde, als wollte es sie vor meinem Blick verbergen. Doch sie war da, auch wenn ich sie noch nie zuvor in dieser Gestalt gesehen hatte: Mila. Ich erkannte sie instinktiv, die stärkste Farbe von allen.
Mit beiden Armen führte ich das Katana über den Kopf, dann ließ ich es mit singendem Klang niedergehen. Auf Brusthöhe traf die Klinge auf Widerstand und durchbrach ihn. Ein scharfes Knacken ertönte, dann zerbrachen die Wolken in ein Scherbenbild und fielen in Splittern herab. Hinter der Öffnung, die das Schwert geschlagen hatte, verbarg sich eine Halle.
Eine Halle voller Schattenschwingen, die mich feindselig anstierten.
32 Die Fremde
Hinter mir stieß Shirin einen scharfen Laut aus. »Verdammt, er ist nicht unter ihnen.«
Ranuken warf einen Blick an der scharfen Einbruchstelle des Wolkenspiegels vorbei. »Dafür aber jede Menge andere Nasen, die nicht gerade den Eindruck machen, in Picknicklaune zu sein.«
Ich drängte mich vor ihn. Bleib erst einmal außerhalb dieses Spiegelgebildes. Keine Sorge, ich will dich nicht abschieben, sondern vermeiden, dass sie Rufus sehen. Ihr beiden seid mein Joker. Tu mir den Gefallen und sorg dafür, dass Rufus nicht vor Wut herumbrüllt.
Aus den Augenwinkeln nahm ich noch wahr, wie Ranuken Rufus’ Jackensaum packte und ihn dem sich wehrenden Jungen in den Mund zwang. Dann flogen die beiden außer Sichtweite.
Betont langsam landete ich auf dem spiegelglatten Hallenboden und schloss meine Schwingen, obwohl mir keineswegs danach zumute war, dann senkte ich das Katana, damit niemand sich unnötig herausgefordert fühlte. Um mich herum fand ich lauter Gesichter, die mir auf den Versammlungen seit dem ersten Angriff des Schattens vertraut geworden waren. Jetzt hatte ich jedoch das Gefühl, vor Fremde zu treten, Schattenschwingen, mit denen mich kein gemeinsames Interesse verband. Jemand hatte sie davon überzeugt, dass wir Gegner waren, und dieser Jemand hatte hervorragende Arbeit geleistet. Nikolai war in keiner Hinsicht zu unterschätzen.
Solveig trat zwischen den anderen hervor und musterte mich verächtlich. »Nachdem du hier mit Gewalt eingedrungen bist, muss ich dich wohl gar nicht erst fragen, auf welcher Seite du bei diesem Kräftemessen stehst, Samuel. Außerdem hast du deine Wächterin ja gleich mitgebracht.« Sie deutete auf Shirin, die neben mir auf den gläsernen Boden sank wie ein schwarzer, vom Flug erschöpfter Vogel. »Es hatte sich ja bereits abgezeichnet, dass du Asami genauso hörig bist wie er dir, trotzdem trifft mich dein Verrat. Schließlich bist du der Erste unter uns gewesen, der sich gegen die Herrschaft der Älteren aufgelehnt hat.«
»An meiner Haltung hat sich nichts geändert«, stellte ich klar. »Ich bin aus einem anderen Grund in diese Halle eingedrungen: Ich suche jemanden. Nikolai hat ein Mädchen aus der Menschenwelt geraubt …«
Solveigs dröhnende Lache ließ mich verstummen. »Das haben dir die Alten also erzählt, um dich vor ihren Karren zu spannen! Und du armseliger Idiot fällst darauf herein.«
»Die ganze Angelegenheit ist sehr viel komplizierter, als du denkst. So kompliziert, dass es unmöglich ist, sie in wenigen Sätzen zusammenzufassen.« Ich strich mein zerzaustes Haar aus den Augen. »Wenn du mir die Gelegenheit gibst, dir meine Erinnerung zu zeigen, dann wirst du begreifen, was hier in Wirklichkeit vor sich geht.«
Solveig hob die Fäuste an, als wollte sie mir allein für den Vorschlag einen Hieb mitten ins Gesicht verpassen. In ihren Augen war ich nicht mehr als
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