Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Aber der Moment reichte aus, damit ich verstand, wie schwer es ihm fiel, ausgerechnet jetzt von meiner Seite zu weichen. Dann nahm er Kurs auf die wartenden Schattenschwingen, um sie anzuführen, während ich dem Silberstaub folgte, mit Shirin und Ranuken in meinem Windschatten.
∞∞
Es ging hinaus aufs offene Meer, allerdings nicht in die Richtung des Eilands. Nein, hier draußen gab es nur das Meer und einen wolkenverhangenen Himmel. Mir kam nicht die leiseste Idee, warum es Nikolai mitten ins Nirgendwo verschlagen hatte. Was zur Hölle sollte das? Weit und breit gab es nichts, um zwei Menschen zu verbergen oder gar einen Feind auf Abstand zu halten. Nur das Meer, von dem er sich nach unserem letzten Zusammenstoß gewiss fernhalten würde, und dichte schiefergraue Wolken.
Wolken, dachte ich, und plötzlich kam mir eine Vermutung: Die Wolken gehörten zu Solveig!
Ich stieg steil auf und ignorierte Rufus’ Beschwerden über die Höhe. Die Wolken bildeten eine regelrechte Nebelwand, winzige Wassertropfen, dicht an dicht, sodass ich kaum die Hand vor Augen sah. Beinahe verlor ich sogar die Silberspur. Sie wurde schwächer, löste sich auf … oder verschwand sie lediglich im Nebel? Wie auch immer, es war nichts darin auszumachen. Ich war ein Narr, der sich an einer vagen Hoffnung festhielt.
Ich muss mich mit dem Traumstaub getäuscht haben, teilte ich Shirin mit, die zu mir aufschloss . Hier ist nichts, rein gar nichts, weder Nikolai noch Solveig oder eins der Mädchen. Eine Sackgasse, verflucht!
Als ich abdrehen wollte, versperrte Shirin mir den Weg.
Es muss aber etwas da sein. Samuel, du musst eine Möglichkeit finden, um es sichtbar zu machen. Du bist der Einzige, der eine Verbindung zu ihm hat, seit er zurückgekehrt ist. Er ist vor unserer Nase. Er verspottet uns, ehe er zu seinem vernichtenden Schlag ausholt. Trotz ihrer Erschöpfung durch den Flug klang Shirin um einiges gefestigter als eben noch am Strand. Die Aussicht, schon bald vor ihrem ärgsten Feind zu stehen, beflügelte sie offenbar.
»Wie du meinst. Schauen wir, was der Traumstaub vorhat.« Ich verengte die Augen zu Schlitzen, aber selbst auf diese Weise erkannte ich bestenfalls ein Nachflimmern des Silbers und auch das würde gleich verblassen.
»Ranuken, kommst du mal zu mir?«
Kaum hatte ich ihn gerufen, schwebte er auch schon neben mir, aufgeregt mit den Schwingen schlagend. »Ja, Sir?«
»Ich habe eine schwere Aufgabe für dich. Wirst du sie übernehmen?«
»Logo, ich bin zu allem bereit, ich … Hey, ich will den Levander-Nachwuchs nicht durch die Gegend kutschieren! Das ist eine ganz miese Nummer von dir, mir einfach diesen Kartoffelsack in die Arme zu drücken. Du bist nicht länger mein Hauptmann, jawohl. Verflixt, Rufus, hör auf, dich gegen mich zu wehren, ansonsten lasse ich dich fallen. Ich schwör’s.«
»Scheiße, Sam, das kannst du nicht bringen!« Rufus vergaß schlagartig seine Flugangst, obwohl Ranuken ihn lediglich unter den Achseln hielt. Er zappelte, als würde er einen Absturz dieser rothaarigen Mitfluggelegenheit vorziehen.
Während Rufus und Ranuken vor lauter Sich-Kabbeln ein Stück in die Tiefe sackten, ließ ich meine Aura aufleuchten und machte mich dadurch zu einem – selbst in diesem Nebel – weithin sichtbaren Ziel. Mein Plan ging auf: Ich erspähte gerade noch, wie das restliche Silber von einer Sekunde auf die andere verschwand, als habe jemand einen Mantel darüber ausgebreitet. Einen Mantel aus Wolken. Ich streckte die Hand aus in der Erwartung, auf einen Widerstand zu stoßen, doch da war ausschließlich kühler Dunst, der sich auf meine Haut legte. Und doch … etwas hatte den Silberstaub in sich aufgenommen oder durchgelassen. Shirin hatte recht, Nikolai war da, auf der anderen Seite. Dort lauerte er und verlachte uns.
Tu, was du willst, ging es mir durch den Kopf, ich bin in erster Linie wegen Mila gekommen. Sie ist es, zu der ich will. Du bist nur das Hindernis zwischen uns, das ich überwinden muss.
Mila. Noch nie hatte ich mich ihr so fern gefühlt. Ich brauchte etwas, um sie zu erreichen, einen Beweis für unsere Verbindung, die mir hier, umgeben von Nacht und Wolken, wie ein Traum erschien. Ein alter Traum, schon halb in Vergessenheit geraten, über ein Liebespaar, dem nur wenige vertraute Momente vergönnt gewesen waren. Die Bank im Garten der Levanders … Milas Hände auf mir, ihre Beine um meine Hüfte geschlungen, während wir im Meer schwammen … wie sie den Bernsteinring annahm
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