Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
jedoch die Hand hob, um mir eine Ohrfeige zu verpassen, reichte es. Ehe sie sich versah, hatte ich ihr Handgelenk gepackt und es umgedreht.
»Ich lasse mich nicht schlagen«, erklärte ich, während ihr Tränen in die Augen stiegen. »Ich will jetzt sofort wissen, wo Nikolai sie in diesem überdimensionalen Spiegelkasten versteckt hat. Und ihr anderen bleibt stehen, wo ihr seid. Gyula, senk deinen Speer, sonst verliere ich gleich die Geduld.«
Ich deutete lediglich an, dass ich ansonsten das Katana auf Solveig niedergehen lassen würde, aber die erhobene Klinge reichte als Drohung aus, um die anderen Schattenschwingen auf Distanz zu halten – vorerst zumindest. Mit zu Fäusten geballten Händen und unheilvoll flackernden Auren standen sie da. Sogar Gyula, Solveigs selbst ernannter Leibwächter, gehorchte, wenn auch nur widerwillig. Die Stimmung war auf dem Siedepunkt, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in einen Kampf münden würde, egal ob ich Solveig in meiner Gewalt hatte oder nicht. Ich wollte gerade Asamis Unterstützung einfordern, als mir plötzlich der Grund unter den Füßen weggezogen wurde.
»Wer bist du, dass du dir das Recht herausnimmst, gewaltsam bei uns einzudringen und uns dann auch noch zu bedrohen?«
Es war Milas Stimme.
Ihr vertrauter Klang traf mich so unerwartet, dass ich einen Moment lang brauchte, um ihre Frage zu verstehen, und selbst dann bekam ich beides nicht zusammen. Was mich jedoch nicht im Entferntesten kümmerte. Auf einer gläsernen Balustrade stand wahrhaftig meine Mila, das Gesicht voller Leben und zu meiner Erleichterung ohne jede Spur von Gewalteinwirkung. Nein, so selbstsicher trat kein Mädchen auf, das unter Druck zerbrochen war. Ganz im Gegenteil, sie sah wunderschön aus mit ihren erröteten Wangen, den ernst dreinblickenden Nussaugen und dem Kleid aus Silber und Rot, das ihre Figur umschmiegte. Die Farben auf dem Stoff schienen miteinander zu ringen, waren in taumelnder Bewegung, übertünchten sich gegenseitig, als gelte es, die jeweils andere Farbe auszulöschen, um sich in der nächsten Sekunde aneinanderzuschmiegen wie ein Liebespaar.
Ich stand da, vollkommen erstarrt. Für die Dauer einiger Herzschläge existierten weder die sich windende Solveig noch die stetig näher rückenden Schattenschwingen, aus deren Mienen der nackte Hass sprach.
»Mila«, flüsterte ich.
»Wer auch immer du bist, du solltest sofort gehen. Verlass unsere Heimatstatt.«
Wer auch immer ich war?
Sie erkannte mich nicht, hielt mich für einen Eindringling, einen Fremden voller schlechter Absichten. Unmöglich. Mila würde mich immer erkennen, sie hatte längst erkannt, wer ich in Wirklichkeit war, als ich selbst noch nicht die leiseste Ahnung hatte.
»Du bist eine von Nikolais Spiegelungen, richtig? So wie er die Wolken gespiegelt hat, hat er auch ein Mädchen erschaffen, das zwar wie Mila aussieht, aber klingt wie er«, versuchte ich mir ihre Reaktion zu erklären. »Die wahre Mila weiß genau, wer ich bin.«
Ihre dunklen Augenbrauen fuhren zusammen. »Du redest wirres Zeug, ich bin gewiss keine Spiegelung. Ich bin Mila und ich habe dich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Kein großer Verlust, möchte ich meinen.«
Milas Worte wirkten wie eine Zauberformel, die die Verbindung zwischen mir und der Welt kappte. Von einem Moment zum anderen fühlte ich mich, als hätte man mich in ein luftdichtes Gefäß gesperrt, in dem ich mich wie ein verletztes Tier aufführen konnte, ohne dass nach außen eine Regung erkennbar wurde.
Samuel , versuchte Shirin mich zu erreichen, doch ich wehrte ihre Annäherung ab.
Inzwischen wanderte Milas Blick zu Solveig, die sich – ohne dass ich es bemerkt hatte – aus meinem Griff befreit hatte. »Nikolai hat dir gesagt, dass sie versuchen werden, dich mit Lügen abzulenken, um euch in Ruhe auszuspionieren, bevor sie angreifen. Vermutlich wartet dieser Junge nur auf eine Chance, zu den Wächtern zurückzukehren und ihnen zu berichten, was für ein unentschlossener Haufen ihr doch seid, unfähig, Stärke zu demonstrieren. Du solltest ihn töten, Gewalt ist die einzige Sprache, die sie verstehen.«
Warum soll Solveig mich noch töten? Das hast du doch schon getan, wollte ich Mila sagen, aber es gelang mir nicht. Unablässig starrte ich sie an, begriff, dass es sie nicht kümmerte, was aus mir wurde, denn ich war ja ein Niemand für sie. Ich betrachtete ihren hasserfüllten Ausdruck, als die schimpfende Solveig Gyula seinen Speer aus der
Weitere Kostenlose Bücher