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Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse

Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse

Titel: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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für ein Naturschauspiel.
    Ehe ich Breiti zur Räson pfeifen konnte, brach um mich herum ein Tumult aus, als alle – sogar der ansonsten stets gelassene Toni – ihre Paddel ins Wasser stießen und versuchten, so schnell wie möglich voranzukommen. Nichts anderes schien mehr von Bedeutung zu sein, der Wahn hatte von ihnen Besitz ergriffen. Ich sah nur weit aufgerissene Münder, aus denen Begeisterungslaute drangen, und fiebrige Blicke, die nicht einmal registrierten, wenn sie ein anderes Kajak streiften, so gefesselt hingen sie am Horizont.
    »Stopp, anhalten!«, brüllte ich, ohne dass jemand reagierte. »Was auch immer es ist, es ist viel zu weit weg. Auf diese Weise werdet ihr es niemals erreichen. Ihr sitzt in Kajaks und nicht etwa in Hochseejachten. Das ist der totale Blöds…«
    Weiter kam ich nicht, weil ein älterer Herr, der seinen Mangel an Technik durch Entschlossenheit wettmachte, mein Kajak rammte. Der Aufprall geschah mit einer solchen Wucht, dass das Kajak auf die Seite kippte und ich hinausfiel.
    In der Sekunde, in der ich die Wassernaht durchschnitt, jene unbeschreiblich feine Grenze zwischen der Sphäre und der Menschenwelt, gab ich fast der Versuchung nach, in die Sphäre zu wechseln. Ich wollte wissen, wer die Frechheit oder auch Dummheit besaß, in der Menschenwelt gut sichtbare Wolkentürmchen zu bauen. Der Drang war unermesslich groß, mir diese Schattenschwinge zu schnappen und etwas mit ihr anzustellen, auf das nicht einmal Asami, König der Bestrafung, verfallen wäre.
    Doch ich tat es nicht.
    Stattdessen durchbrach ich die Wellen wie ein Mensch, sank einige Meter tief, bis ich mich weit genug sortiert hatte, um wieder aufzutauchen, wobei ich achtgeben musste, dass keiner der wahnsinnig gewordenen Paddler sein Kajak über meinen Kopf hinweg lenkte, weil außer dem Wolkenzauberwerk ja nichts mehr in ihrem benebelten Verstand existierte.
    Als ich auftauchte, scherte ich mich nicht darum, laut nach Luft zu schnappen oder mir das Salzwasser aus den Augen zu wischen, wie ich es ansonsten immer tat in meinen Bemühungen, einen echten Menschen darzustellen. Ich richtete mein Kajak wieder auf, glitt hinein und … hielt erst einmal inne.
    So wie alle anderen auch, die in ihren Kajaks saßen und sich nicht rührten.
    Denn der Wolkenpalast, der mittlerweile so weit gediehen war, dass man ihn wirklich als Gebäude hätte bezeichnen können, löste sich schlagartig wie eine Fata Morgana in Luft auf. Nicht einmal ein fernes Glitzern blieb zurück. Obwohl ich meine mentalen Türen fest verschlossen hielt, erreichte mich ein Widerhall der Auseinandersetzung, die weit draußen auf dem Meer gerade ihren Höhepunkt gefunden haben musste. Welche Schattenschwinge auch immer wolkenfarbene Augen hatte, sie hatte bei dem Versuch, ihre Pforte nicht nur zu durchschreiten, sondern die Menschenwelt auch wissen zu lassen, dass es diese Pforte gab, soeben einen herben Rückschlag erlitten.
    Während ich noch schockiert über dieses Übergreifen der Sphäre auf die Menschenwelt war, kamen die Paddler langsam wieder zu sich und schauten sich verwundert um. Auf einigen Gesichtern breitete sich bereits ein peinlich berührtes Lächeln aus, besonders bei dem Herrn, der mich völlig außer Rand und Band umgepflügt hatte. Mit dem Wolkenpalast war offenbar auch der Wunsch verschwunden, die halbe Nordsee zu durchpaddeln.
    »Großartig«, rief ich in die Runde, als wäre nichts geschehen. »Das war doch ein schöner Ausflug und jetzt geht es wieder zurück. Und zwar schleunigst.«
    Niemand widersprach mir.

7 Dem Licht so fern
    Es dauerte eine Weile, bis die Paddelgruppe bei der Surfschule endlich ihr aufgescheuchtes Geflüster einstellte und jeder seines Weges ging. Das Gesehene hatte sie eindeutig tief beeindruckt, und nur die Scham darüber, die Beherrschung verloren zu haben, sorgte dafür, dass sie nicht ewig beisammenstanden und das Erlebte immer aufs Neue in Worte packten. Andernfalls wäre ich ernsthaft versucht gewesen, in ihre Erinnerung einzugreifen und das Ganze in den langweiligsten Paddelausflug aller Zeiten umzuwandeln. Ich gab mich damit zufrieden, dass der Wolkenpalast in ihren Köpfen schon von selbst verblassen würde – genau wie in Wirklichkeit.
    Unschlüssig blieb ich bei den verstauten Kajaks stehen, obwohl ich mich eigentlich sputen musste, wenn ich noch ein wenig Zeit mit Mila verbringen wollte. Doch was sollte ich ihr über den Vorfall erzählen? Vermutlich wäre es das Klügste, mich auszuschweigen.

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