Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Andererseits begann das selbst auferlegte Schweigegelübde über alles, was irgendwie mit den Schattenschwingen zu tun hatte, langsam an mir zu zehren. Ich hatte den Verdacht, dass ich mich mit jedem weiteren Mal, bei dem ich etwas Ungesagtes zwischen uns stehen ließ, weiter von ihr entfernte. Letztendlich wusste ich nicht, wie viele Geheimnisse eine Liebe vertrug, ich ahnte nur, dass es da eine Grenze gab. Und die wollte ich nur ungern austesten, besonders weil es ganz danach aussah, als ob es künftig weitere Beweise für die Existenz der Schattenschwingen geben würde. Wie war das noch einmal mit den Geistern, die man rief und die man anschließend nicht wieder loswurde?
»Das war mit Abstand das Seltsamste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.« Toni stellte sich zu mir und rieb sich das Haar mit einem Handtuch trocken. Dabei wirkte er verlegen, eine Regung, die ich bei ihm eigentlich nicht erwartet hatte. »Schon verrückt, dass wir alle miteinander vollkommen ausgetickt sind. Ich kann mir das nicht erklären …«
»Waren eben ein paar besonders hübsche Wolken«, versuchte ich die Situation zu entspannen.
»Das kannst du laut sagen. Ich bin übrigens echt dankbar, dass du die Nerven behalten hast, während ich mich völlig hirnlos der ausreißenden Herde angeschlossen habe. Und so was nach fünfzehn Jahren als Lehrer! Da sollte man doch eigentlich meinen, dass einem der Hütesinn in Fleisch und Blut übergegangen ist.« Toni sah aufs Meer hinaus, als fände er am Horizont eine Heilung für sein angeschlagenes Ego. »Weißt du was: Du brauchst nachher nicht noch einmal extra wegen deines Kurses herzukommen, den übernehme ich. Wink nicht ab, ich möchte das so. Die Ablenkung wird mir gut tun. Mach dir einen gemütlichen Abend mit deiner Mila, aber denk dran: Das Fenster über eurem Bett ist ziemlich gut einzusehen. Nur für den Fall, dass dieser miese Schnüffler Kraachten um den Wohnwagen herumschleicht.«
Nachdem ich der Versuchung widerstanden hatte, rasch einmal in Tonis Erinnerung nachzusehen, was genau er in besagtem Fester zu sehen bekommen hatte, verzog ich mich hinter die hölzernen Umziehkabinen, die vom Stil her an Tiroler Hütten angelehnt waren. Ein Hauch Alpenflair war bei Toni eben Pflicht. Dort standen auch einige Duschen im Freien, damit man sich auf die Schnelle das Salzwasser von Haut und Haaren waschen konnte. Genau das hatte ich jetzt auch vor, allerdings nicht weil mir das Salz etwas ausmachte, sondern um für einen Moment abzuschalten.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass mir keine neugierigen Augen folgten, zog ich den Neoprenanzug bis zu den Hüften hinunter und stellte mich unter den kräftigen Wasserstrahl.
Meine eingezogenen Schwingen wurden zwar stets für Tätowierungen gehalten, trotzdem erregten sie eine Aufmerksamkeit, die mich irritierte. So war ich bereits mehrfach von Schülern, aber auch von Kollegen angesprochen worden, ob sie die schwarzgrauen Flügel, die meinen gesamten Rücken bedeckten, einmal berühren durften. Dabei schien niemandem auch nur ansatzweise bewusst zu sein, wie grenzwertig die Bitte war. Schließlich lief es darauf hinaus, dass sie mich anfassen wollten, als wären wir im Streichelzoo. Samuel, die exotische Kreatur – betatschen ja, füttern verboten. In der Regel waren sie viel zu fasziniert von den »unfassbar echt aussehenden« Farbstrichen unter meiner Haut, als dass sie auch nur geahnt hätten, dass die Berührung meiner Schwingen – ob sie nun eingezogen waren oder nicht – für mich so intim war, dass ich sie von niemand außer Mila zulassen würde. Obwohl es noch jemand anderen gab, der diese Grenze überschritten hatte. Allerdings hatte Asami es ohne meine Zustimmung getan …
Nachdem das Wasser das Salz längst abgespült hatte, blieb ich weiterhin unter dem eiskalten Strahl stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, stand ich da, genoss den Druck, mit dem er auf meine Stirn niederging, in meinen Ohren brauste und auf meine Schultern schlug. Meine Umgebung verschwand hinter einer Wand aus blauweißen Schlieren, während die Kälte des Wassers mich angenehm betäubte. Ich ließ es geschehen, ließ mich forttreiben, war ganz bei mir und hatte keinen Sinn mehr für das Außen … bis der Duschstrahl plötzlich sanfter wurde und schließlich erstarb.
Jemand hatte den Hahn abgestellt.
Ich fühlte, wie die letzten Tropfen ihren Weg über mein Gesicht suchten, bevor der Wind sie trocknete. So wollte ich stehen bleiben, mich nicht regen
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