Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Schatten sich nicht nur aus seinem Gefängnis befreit, sondern auch wieder Gestalt angenommen hat«, tastete ich mich vorsichtig voran.
»Ja, das war es«, sagte Shirin leise. »Aber weit schlimmer war es für mich, als ich nach seinem Angriff zu mir kam und feststellte, dass er einen Teil seiner Selbst in mir zurückgelassen hat.«
Als Shirin behutsam das Tuch von ihrem Körper zog, befürchtete ich einen irrwitzigen Moment lang, ein Schwangerschaftsbauch könnte zum Vorschein kommen. Stattdessen entblößte sie eine schwarze längliche Wunde oberhalb ihres Rippenbogens. Etwas steckte in dieser Wunde, wie ein silbriges Glänzen verriet.
»Aber dein Herz … es schlägt doch noch«, brachte ich stammelnd hervor.
»Da bin ich mir gar nicht so sicher. In meiner Brust sitzt zwar ein Muskel, der arbeitet, aber mein Herz? Ich spüre ausschließlich die Klinge, die der Schatten aus seiner Aura geformt hat. Sie hat mich von allem losgeschnitten, das mich als Schattenschwinge ausgemacht hat. Wenn Kastor sich nicht jeden Tag aufs Neue dazu hergeben würde, diese Klinge mit seiner Aura zu ummanteln, wäre von mir nicht einmal mehr die nutzlose, von Schmerzen heimgesuchte Hülle übrig.«
Kastor stand mit verschränkten Armen neben dem Bett. »Sie nimmt es mir übel, dass ich sie nicht gehen lasse.«
»Ich nehme es dir übel, dass du meinetwegen geschwächt bist und nicht in die Sphäre zurückkehrst. Genau wie Ranuken.«
Ranuken machte ein unflätiges Geräusch mit den Lippen. »Ich bin eine Schande auf zwei Beinen, meine schlabberige Aura ist so daneben, dass ich wie ein Klappstuhl zusammenkrache, wenn ich auch nur Shirins Haut streife. Also, ich habe Null Mitleid mit mir. Außerdem ist es nicht wichtig, wo man ist, sondern mit wem man zusammen ist. Und ich war seit meinem ersten Tag als Schattenschwinge bei dir, du schwarze Göttin.«
Nach einigen Versuchen gelang es mir endlich, mich aufzusetzen. Schließlich war nicht ich die Sterbenskranke, in deren Brust seit Tagen eine tödliche Klinge steckte. Regelrecht verseucht hatte Nikolai Shirin, sie zu einer Aussätzigen gemacht, die niemand berühren konnte, ohne selbst seine Strafe zu spüren. Mit welcher Gewalt er auch über mich gekommen war … Allein bei der Erinnerung schüttelte es mich kräftig durch. Doch dann stieg Wut in mir auf, und das fühlte sich schon viel besser an, denn es half mir, meine Ohnmacht zu überwinden. Egal wie überlegen Nikolai gewesen war, ich hatte mich ihm entgegengestellt und war entkommen. Da würde ich mich von den Auswirkungen seiner Klinge ganz bestimmt nicht kleinkriegen lassen.
Mit entschlossener Miene fixierte ich Shirin. »Du brauchst dir wirklich keine Vorwürfe zu machen, weil Nikolai dich verletzt hat. Er hat uns alle getäuscht, ohne Ausnahme. Aber im Gegensatz zu ihm hast du eine Zukunft. Wir müssen nur diese Klinge aus dir herausholen, damit du wieder zu Kräften kommst.«
»Leichter gesagt als getan.« Ich musste immer noch staunen, wenn Kastors einnehmende Stimme erklang. »Egal, was es mich kosten würde – wenn ich in der Lage wäre, diese Klinge zu ziehen, dann würde ich es tun. Aber ich bin es nicht.«
»Wäre Sam es?«, fragte ich vorsichtig.
Schweigen. Sogar Ranuken blieb still – und das war nun wirklich erstaunlich.
»Das heißt dann wohl so viel wie ›ja‹«, stellte ich nüchtern fest.
Meine Forderung, die beiden Welten künftig wieder klar zu trennen, war nicht nur zu kurz gedacht gewesen, sondern auch ziemlich egoistisch, wie sich gerade herausstellte. Damit hatte ich meine Familie und meine Freunde beschützen wollen – dabei aber leider vergessen, dass nicht alle meiner Freunde menschlich waren.
Ich traf eine Entscheidung. »Wenn Sam diese Klinge ziehen kann, dann werde ich ihn darum bitten, es zu tun. Wir haben alle viel zu lange und zu viel für meine Furcht gezahlt. Damit muss jetzt Schluss sein.«
10 In der Abwesenheit des Lichts
Sam
Die Nacht war bereits über uns hereingebrochen und eine dichte Wolkendecke sperrte Mond- und Sternenlicht aus. Ich folgte Asami durch die Dünen … oder vielmehr seiner Aura, die sich wie ein negatives Leuchtfeuer abzeichnete, weil ihre Dunkelheit von einer größeren Dichte war als die schwärzeste Nacht. Seine Aura strömte mir entgegen und rief Sehnsucht wach. Nicht nur weil sie um ein Vielfaches stärker war als meine Aura und mir vorführte, was ich im Kampf gegen Nikolai verloren hatte, sondern weil ich den abstrusen Wunsch verspürte, dass ihr
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