Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
Liebevoll streichelte ich über ihren Rücken und streifte dabei ihre freiliegenden Schultern.
Was dann geschah, begriff ich kaum.
Etwas berührte mich, aber es war nicht der klägliche Rest von Shirins Aura. Es glitt wie eine zweite Haut und schneller als das Licht über mich. Es trieb meinen Geist fort, hinab ins Dunkel, zerriss ihn wie ein wildes Tier seine Beute, zerfetzte mich in kleinste Stücke. Ich versuchte, die Ohnmacht abzuschütteln, die mich plötzlich ergriff, doch es gelang mir nicht. Es war überall um mich herum und riss an mir. Während ich vor Schmerzen und Verwirrung regelrecht taub war, drang doch noch etwas zu mir hindurch. Ein Klang … Silben … Jemand sprach.
Du gehörst mir , wisperte die Stimme eines Toten.
Nikolais Stimme.
∞∞
Ich kam auf dem Bett zu mir, das an der grün schimmernden Wand stand. Palmwedel, wie hübsch, schoss es mir unsinnigerweise durch den Kopf.
Ranuken, der neben mir hockte, tätschelte meine Wange. »Sie kommt zu sich. Schade, dabei wollte ich es gerade mit Mund-zu-Mund-Beatmung versuchen.«
»Nicht doch! Ich bin wach, so wach wie nie zuvor.«
Nachdem ich all meine Kraft in meine Stimme gelegt hatte, damit Ranuken bloß nicht auf die Idee kam, ein bisschen Wiederbelebung könnte trotz allem nicht schaden, setzte ich mich auf. Augenblicklich begann sich der Raum zu drehen. Ziemlich benommen fing ich einen Blick von Kastor auf, der vor Shirin kniete. Ich machte ein schiefes Daumenhoch-Zeichen, dann sackte ich in mir zusammen.
Sogleich redete Kastor beschwichtigend auf die weinende Shirin ein. »Alles ist gut, sie ist wieder aufgewacht. Bitte, beruhige dich. Es konnte doch keiner ahnen, dass eine simple Berührung solch eine Wirkung auf sie hat. Sie ist schließlich ein Menschenmädchen und keine Schattenschwinge.«
»Der Bernsteinring. Sie ist nicht einfach ein Menschenmädchen, sie ist ein Teil von Samuel, sie ist mit seiner Aura verbunden.« Mit ihren tränennassen Augen sah Shirin mich an. »Es tut mir schrecklich leid, das hätte niemals passieren dürfen.« Wie unter Qualen erhob sie sich, schwankte leicht, bis Kastor ihr einen Arm um die Hüften legte. »Ich kann allein gehen.«
»Das bezweifle ich. Vielleicht gelingt es dir, auf allen Vieren bis zum Bett zu kriechen, aber das werde ich auf gar keinen Fall zulassen.«
»Sturer Grieche«, wisperte sie, zu mehr fehlte ihr offenbar die Kraft.
Zu gern wäre ich Shirin entgegengeeilt, aber Ranuken drückte mich kurzerhand in die Waagerechte. »Schön liegen bleiben, hör auf den guten Onkel Doktor. Oder willst du uns alles vollkotzen? So war es nämlich bei mir, nachdem ich mit dieser hübschen kleinen Waffe in Berührung gekommen bin, die in Shirin steckt.«
Ich wollte nachfragen, wovon Ranuken sprach, aber anstelle von Worten stieg was ganz anderes meine Kehle hoch. Also gab ich nach und blieb liegen. Als ich mich wieder einigermaßen gesammelt hatte, saß Shirin bereits auf der Bettkante neben mir, die Finger so fest in ihrem Tuch vergraben, dass die Knöchel weiß hervortraten.
»Du weißt, wessen Geist in Nikolais Körper fortlebt?«
Ich nickte stumm.
»Wie nah ist er dir gekommen, als er dich in seiner Gewalt hatte?«
Unwillkürlich starrte ich auf die breiten Bernsteinreifen an Shirins Handgelenken. Offenbar befürchtete sie, dass Nikolai mich ebenfalls unterworfen hatte. »Keine Sorge, er hat mich nicht angefasst, obwohl er mir damit gedroht hat«, beeilte ich mich, ihr zu versichern. »Er … er wollte lediglich, dass ich ein Zeichen in seine Haut ritze. Aber das ist doch egal, denn es gibt ihn nicht mehr, dafür hat Sam gesorgt. Viel wichtiger ist mir die Frage, wie es dir geht. Haben Kastor und Ranuken sich anständig um dich gekümmert?«
Zum ersten Mal, seit ich den Raum betreten hatte, lächelte Shirin. »Mehr als das. Ich befürchte, ich stehe so tief in ihrer Schuld, dass ich es niemals wieder werde gutmachen können.«
»Quark. Wir sind einfach froh, dass du genug Lebenswillen aufgebracht und dich nicht kurzerhand in eine Lichtwandlerin verwandelt hast. Sah ja einige Male verdächtig danach aus, als ob du uns verloren gehst.« Ranuken kauerte neben mir und hielt meine Hand. Recht fest mittlerweile, aber ich traute mich nicht, sie ihm zu entziehen. Offenbar bereitete die Erinnerung an eine kurz vor dem Erlöschen stehende Shirin ihm Seelenqualen. Seine Verstörtheit ließ Shirin noch elender dreinblicken.
»Es muss ein riesengroßer Schock für dich gewesen sein, dass der
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