Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
gerechnet. In der Sphäre erwuchs der Berührung zwischen Schattenschwinge und Mensch eine besondere Energie. Ich hatte damit bereits meine Erfahrungen gemacht: Sowohl Shirin als auch Ranuken hatten wie beseelt gewirkt, nachdem sie mich angefasst hatten. Allerdings stand zu befürchten, dass Nikolai sich nicht mit der stimulierenden Wirkung einer harmlosen Berührung zufriedengeben würde. Seine Macht baute darauf auf, dass er von anderen nahm, niemand anders kannte sich in dieser Kunst so gut aus wie er. Er hatte sogar Sam bestohlen.
»Mila«, unterstrich er seine Forderung.
Plötzlich durchfuhr ein Beben den Grund.
Mit Mühe gelang es mir, mich auf den Beinen zu halten, während Lena einen schrillen Fluch ausstieß.
Dieses Beben war das entscheidende Zeichen, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als Nikolai zu helfen.
Kaum hatte ich mein Gleichgewicht wiedergefunden, da nahm ich seine Hand und fühlte, wie dort, wo unsere Haut miteinander verschmolz, ein Kribbeln entstand, das er zweifelsohne auf eine vielfach stärkere Weise wahrnahm. Trotzdem gelang auch mir etwas Besonderes: Ich nahm Sams mir so vertraute Energie in Nikolais Aura wahr. Es war lediglich eine Spur von ihr übrig geblieben, aber mir reichte es, um mich zu trösten. Sam … Ohne diese machtvolle Quelle, begriff ich, hätte Nikolai die Flucht durch die zerstörte Pforte nicht überlebt, und ich damit ebenso wenig. Sam schützte mich sogar, wenn er gar nicht da war. Unwillkürlich dachte ich daran, wie ich ihn in der Sphäre gestreichelt und liebkost hatte, bis er fast die Beherrschung verlor. Diese Art von Berührung war viel mehr als der bloße Austausch von Kraft, weshalb er nie gewollt hatte, dass jemand anders auch nur meine Haut streifte.
Abrupt setzte ich einen Schritt zurück.
Als ich die Verbindung unterbrach, verzog Nikolai vor Schmerz das Gesicht.
»Ich kann nicht. Ich kann das unmöglich mit dir teilen! Das gehört Sam und mir …«
Nikolai sah mich bloß mit seinen silbrigen Augen an. Die Augenfarbe war die einzige Farbe, die wir Menschen in der Sphäre erkannten. Und ausgerechnet seine war nur eine Spiegelung – wie bezeichnend. Jetzt saß er regungslos da, abwartend, wie ich erst begriff, als das nächste Beben den Grund zum Zittern brachte. Ich blickte zu Lena hinüber, die zwanghaft über ihren Brustkorb rieb. Sie war der Panik nahe und glaubte, nicht ausreichend Luft zu bekommen. Es war klar, wo das hier hinführen würde, wenn ich dem Ganzen nicht rasch ein Ende bereitete.
»Ich hasse dich«, sagte ich, als ich Nikolais Hand erneut nahm.
»Soll mir recht sein.«
Erneut baute sich das Kribbeln zwischen uns auf, doch dieses Mal gab Nikolai sich nicht länger damit zufrieden. Auf einem seiner geheimen Wege begann er, mehr von mir zu nehmen, als ich freiwillig zu geben bereit war. Er drang zu mir vor wie die gierig vorpreschende Flut, durchströmte jeden Winkel meines Selbst, breitete sich immer weiter aus … bis ich das Bewusstsein verlor. Zumindest fühlte es sich so an. Als würde ich mir abhandenkommen.
∞∞
Die Sonne ging bereits auf, als ich meine Umgebung wieder wahrnahm. Genauer gesagt, Nikolais zersplitterte Aura, die sich vor meinen Augen erholte: Die tiefen Risse, die durch die Reinigung von allem Ascheartigen entstanden waren, schmolzen wie zerschlagenes Eis in der Sonne, um glatt und einheitlich zu erstarren. Auch der Zackenrand wurde versiegelt, wenn er auch noch lange nicht wieder so viel Raum einnahm wie zuvor.
Vorsichtig horchte ich in mich hinein, doch da war kein Widerhall, sondern nur Leere. Weder ein Gefühl noch sonst irgendeine Form von Reaktion, als hätte Nikolais Berührung mich leer geräumt. Ich war vollkommen in diese Beobachtung versunken, während Nikolai meine verwundete Hand begutachtete. Es kümmerte mich nicht, wie er sie umfasste, wie er murmelnd die Wunde versorgte. Nicht dass es viel zu tun gab – das Katana hatte die Schnittfläche förmlich ausgebrannt.
»Du bist ein kleines Biest, weißt du das?«, sagte Nikolai. »Unberechenbar … Den Ring wiederzubekommen, wird sicherlich kein Spaziergang. Und wir brauchen ihn genauso sehr, wie wir Sam brauchen, wenn du und ich diesen kleinen Akt des Austauschs nicht zur Gewohnheit werden lassen wollen.«
Der Ring. Ich vermisste ihn, seine Glätte und Wärme. Und plötzlich spürte ich mich wieder, so als wäre der Gedanke an ihn die richtige Zauberformel gewesen. Allerdings fühlte ich mich mir selbst weiterhin ein wenig entfremdet;
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