Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
ich hatte mich nicht zu hundert Prozent zurückerlangt. Nikolai hatte einen Teil für sich behalten, in welcher Form auch immer.
∞∞
Nach dieser ersten Berührung hatte ich noch gedacht, das Schlimmste hinter mir zu haben. Ich glaubte, dass nun das große Warten auf Sam begann, den einzigen, der Nikolai die Stirn zu bieten in der Lage war. Aber es kam anders, denn es blieb nicht bei dieser einen Berührung … Nikolai war zu ausgehungert und zu angeschlagen, um von mir abzulassen. In dem Moment, als Kastor die Aschepforte zerstörte, war seinem schwarzen Feuer mehr als nur Nikolais Brücke zwischen Sphäre und Menschenwelt zum Opfer gefallen. Während Lena und ich mit Nikolai in dem gläsernen Käfig Hunderte von Metern über dem Meer eingesperrt waren, lernte ich, was es bedeuten konnte, einer Schattenschwinge auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein.
Mit dem verloren gegangenen Ring war Nikolais Plan zerschlagen, für sich zu beanspruchen, was Sam und mir allein gehörte: unsere stetig tiefer werdende Bindung und die Macht, die dadurch entstand. Nun hatte er nur mich, ein Menschenkind. Zwar eines mit einer Gabe, die ihm zugutekam, aber um diese in Anspruch zu nehmen, musste er mich berühren, und zwar auf eine Weise, die nicht einseitig blieb. Mit jeder Berührung offenbarte Nikolai sich mir ein Stück mehr – er konnte sich genauso wenig gegen die Wechselwirkung, die zwischen uns entstand, wehren wie ich. Seine Berührung veränderte ihn und sie veränderte mich. Mit jedem weiteren Mal wurde sie dem Moment ähnlicher, in dem ich Sams Inneres berührt hatte und beinahe von dem Strom seiner Gedanken und Gefühle mitgerissen worden war. Nur geschah dies jetzt in der Sphäre und Nikolai war nicht mein Sam. Er nahm ohne die geringste Rücksicht. Nicht mehr lange, und die Mila Levander, die in St. Martin bei ihrer Familie lebte, die Schule besuchte und sehnsüchtig auf die Ebbe wartete, damit sie zu ihrem Freund konnte, würde vergessen sein. Ich würde Nikolai gehören, vollkommen erfüllt von seinem Inneren.
»Es tut mir so leid«, wisperte Lena, als ich mich zitternd an sie kuschelte, in der Hoffnung, ein Mittel gegen die Kälte zu finden, die zunehmend von mir Besitz ergriff. »Wenn ich doch nur irgendetwas tun könnte. Oder wenn er es wenigstens einmal mit mir tun würde, damit ich nicht nur danebensitze und dir beim Leiden zusehe.«
Die Mutlosigkeit in Lenas Stimme brachte mich dazu, mich aufzusetzen. Es fiel mir schwer, alles tat weh. Vor allem meine Seele ächzte, dabei war diese doch gar nicht stofflich. Aber Nikolai hatte sie berührt, so wie er mich berührt hatte. Auf keine anzügliche Weise, aber das minderte nicht die Verstörung, die seine Hände auf meiner Haut hervorriefen.
»Ich glaube nicht, dass du es überstehen würdest – und das weiß Nikolai sehr genau, nach dem, was an den Wellenbrechern passiert ist. Du hältst dich echt tapfer, Lena, das alles muss der reinste Albtraum für dich sein. Also hab kein schlechtes Gewissen, du tust mehr als genug«, redete ich beruhigend auf sie ein. »Allein, dass du bei mir bist, hilft mir, nicht den Verstand zu verlieren. Du erinnerst mich daran, wer ich bin, auch wenn ich immer mehr mit ihm verschmelze.«
»Genau aus diesem Grund behält dieses Scheusal mich doch überhaupt hier, obwohl ich unnütz für ihn bin: damit der Prozess eures Verschmelzens hinausgezögert wird. Er mag es gern auf die langsame Art, unser Nikolai. Ich hasse ihn aus vollstem Herzen.«
»Wie gut, dass du zu solchen Gefühlen noch imstande bist. Dann hat er wenigstens nichts in dir zerstört.«
Lenas ansonsten stets wache Augen waren trüb vor Kummer. »Anders als in dir.«
Ich versuchte, dem Verlust hinterherzufühlen, den Nikolai mir zugefügt hatte. Ich konnte ihn nicht in Worte fassen, konnte die Ränder der Leerstelle nicht einmal ertasten. »Es ist wie eine Amputation«, erklärte ich Lena. »Nur dass er mir nichts wegnimmt, sondern mein Inneres überdeckt, weil er zu übermächtig ist. Er verdrängt mich einfach. Ich bin wie ein Bild, das er Stück für Stück verändert, so wie ich ihn bei jeder Berührung verändere. Sollte Sam uns nicht bald finden, werde ich nicht mehr da sein, wenn er kommt.«
»Es ist alles so verflucht ungerecht. Ich sitze untätig da, während er sich deiner vor meinen Augen rücksichtslos bedient. Wenn ich nur irgendwas tun könnte!«
Lena schlug mit ihrer Faust auf den gläsernen Grund des Käfigs, mit dem einzigen Ergebnis, dass sie
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