Schattenseelen Roman
definierten Muskeln, und der Hunger, der in ihrem Leib brannte, verlang - te nun nach Berührung und nicht nach Essen. Knopf für Knopf öffnete sie das blutverschmierte Hemd und legte seine Haut frei. Ihre Hand streifte über seinen
trainierten Bauch zum Hosenbund. Gott, was tat sie bloß! Die Hitze schlug ihr in die Wangen. Ihre Finger fuhren über den Gürtel zum Reißverschluss.
Hör auf!, befahl sie sich und hätte sich am liebsten durchgeschüttelt. Was machte sie da? Er besaß doch mehr als einfach nur einen … sie stöhnte … himmlischen Körper. Eine Seele, Gefühle, die sie zu respektieren hatte!
Ihre Hand zuckte zurück. Evelyn riss sich zusammen und suchte dann schnell seine Taschen ab. In der rechten fand sie die Geldbörse und inspizierte den Inhalt. Unzählige Karten steckten in den Fächern, seitlich lugte die Ecke eines Fotos heraus. Sie zog daran und hielt eine vergilbte Fotografie in den Händen.
Das Bild zeigte Adrián an einem Strand. Neben ihm standen eine lachende Frau mit langem dunklem Haar und ein Mann, der die Arme um ihre Taille geschlungen hatte. Auf der Rückseite verkündete eine verblichene Handschrift: Costa del Sol, verano 1956 .
Evelyn musterte das Bild. Oberflächlich betrachtet hatte er sich seit damals kaum verändert. Auf den zweiten Blick glaubte Evelyn, jemand anders zu sehen. Seine Züge wirkten weicher. Das Gesicht des Adrián, den sie kannte, war mit der Zeit verwittert, es war kantiger, strenger, die Haut - blasser. Auf dem Foto lächelte er unbeschwert. In seinen großen, ausdrucksvollen Augen lagen Wärme und eine innere Ausgeglichenheit, die sie auf eine seltsame Weise berührte. Den Adrián von damals hätte sie gern kennengelernt.
Jetzt bloß nicht sentimental werden, mahnte sie sich. Sie steckte das Foto zurück und schüttete das Geld auf das Bett. Viel war es nicht. 15 Euro und 52 Cent. Evelyn sammelte alles ein, verstaute das Portemonnaie wieder in Adriáns Hosentasche und schlich aus dem Haus.
Die Morgenluft kühlte ihr Gesicht. Mit voller Brust atmete sie die Frische ein und fühlte sich lebendiger denn je. Wie konnte sie bloß eine Sekunde daran geglaubt haben, tot zu sein? Der Umgang mit diesen komischen Leuten schlug ihr wohl auf das Gemüt. Jetzt erst einmal essen und dann ab nach Hause. Evelyn eilte die Straße entlang. Zu dieser frühen Stunde traf sie kaum Passanten. Sie musste ein Weilchen herumirren, bis sie eine Bäckerei fand. Endlich! Evelyn kaufte Croissants und belegte Brötchen und konnte es kaum abwarten, wieder nach draußen zu gelangen. Gleich vor dem Laden stopfte sie das Essen in sich, verschlang die Bissen, ohne zu kauen. Mit schwerem Magen, aber seelisch erleichtert machte sie sich auf den Weg zu einer Bushaltestelle. Laut dem Plan sollte der Bus in zehn Minuten kommen. Evelyn setzte sich auf die Bank.
Übelkeit fiel über sie her.
Verflucht, sie hätte nicht so schnell und so viel essen sollen, keine Frage. Tief und langsam atmete sie ein und aus. Schweiß trat ihr aus allen Poren. Sie stand auf und ging einige Schritte auf und ab. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hielt die Luft an, in der Hoffnung,
die Übelkeit niederkämpfen zu können, dann beugte sie sich vornüber und erbrach sich auf den Asphalt.
»Ist alles in Ordnung?«, hörte Evelyn eine Frage, die von weit her zu ihr drang, als steckten in ihren Ohren Wattebäusche.
Sie nickte schwach.
»Sind Sie sicher?«
Langsam hob Evelyn den Kopf und schob die Strähnen, die ihr vor die Augen fielen, beiseite. Vor ihr stand ein Mann. Doch sie sah ihn kaum durch das silbern-orangefarbene Schimmern, das ihn umgab. Völlig gebannt von diesem Anblick streckte sie die Hand aus. Ihre Fingerspitzen begannen zu prickeln, und das Schimmern erzitterte. Sie fühlte, wie gesund der Mann war, er sprühte förmlich vor Kraft und Vitalität. Noch eine Sekunde, und sie würde ihn küssen, um all das in sich aufzusaugen, was ihr fehlte.
»Nein!«, schrie sie und wich zurück.
Der Mann schreckte zusammen. »Soll ich einen Arzt rufen?«
»Keinen Arzt. Ist schon in Ordnung. Keinen Arzt.«
Auf der anderen Straßenseite sah Evelyn eine Frau stehen, die sie zu beobachten schien. Ihre glatte Haut glich Erdöl. Ein Damenkostüm betonte ihre schlanke Figur, um den Hals hing eine lange Kette aus rotbraunen Perlen. Doch nicht das zog Evelyns Aufmerksamkeit auf sich, sondern die Schatten, die sich um die Frau herum wanden. Mit der Grazie einer Königin
hob die Unbekannte die Hand zu einem Gruß,
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