Schattenseelen Roman
Herzhoff presste die Lippen aufeinander und schaute zum Fenster. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Heute sind sie vorsichtiger geworden und lösen keine Seuchen aus. Zumindest nicht so oft und nicht so fatal.«
Evelyn musterte ihn. Wusste er wirklich von der Existenz der Nachzehrer? Hermann - hatte Adrián womöglich mit ihm telefoniert?
»Wer hat denn die Plage losgelassen? Sie haben vorhin Schwarze Magie erwähnt.«
»Die Hexen.« Seine Finger trommelten auf der Sessellehne.
»Fürchten Sie ihre Rache, denn es wird kein Entkommen geben. Ihr Urteil ist unwiderruflich.«
»Erzählen Sie mir mehr davon.«
»Niemand kennt das wahre Gesicht einer Hexe. Angeblich kann das Feuer sie tatsächlich vernichten, aber bis es so weit ist, wird sie aus dem Körper verschwunden sein, und schon brennt ein unschuldiges Mädchen auf dem Scheiterhaufen.«
Ein Schauder lief Evelyns Rücken entlang. Sie stellte die Tasse ab, da ihre Hand zu zittern begann. »Ich habe im Internet gelesen, Sie hätten eine sehr unkonventionelle Meinung zu Hexen und ihrem Ursprung.«
»Ich rede nicht gern darüber.«
Noch einer, dachte Evelyn. Warum? Sie versuchte, ihn aus der Reserve zu locken. »Man nennt sie ›Die Mächtigen‹, nicht wahr?«
Er kniff die Augen zusammen. »Sie wissen Dinge, die nur wenigen bekannt sind. Ich frage Sie noch einmal: woher?«
»Erzählen Sie mir von den Mächtigen, und ich verrate es Ihnen.« Hinter dem Rücken kreuzte sie die Finger. Natürlich würde sie ihm nicht die Wahrheit sagen können und hoffte, ihn mit einer belanglosen Lüge zufriedenzustellen.
»Hexen und Hexer sind Götter des Altertums. Eine uralte Energie, die auf dem Glauben der Menschen wächst und gedeiht. Nachdem sich die meisten Menschen dem Monotheismus zugewandt hatten, schliefen die alten Götter ein, hieß es. Aber einige, ja einige,
die ihre Gläubigen behalten konnten, wanderten auf die Erde. Sie agieren unter uns. Dafür besetzen sie einen menschlichen Körper, töten die Seele darin und versuchen, den Glauben an sie zu verstärken. Mit allen Mitteln.«
»Von welchen Göttern reden wir konkret?«
»Hinduismus, Voodoo … welche Götter genau unter uns wandern, kann ich nicht sagen.«
»Und welche sind für den Nachzehrer-Fluch verantwortlich?« Sie zog das Tablett näher an sich heran, nahm ihren Tee und aß ein Wurstbrot.
»Diejenigen, die mit einem Totenreich zu tun haben.«
»Es ist alles ziemlich verwirrend. Langsam bin ich etwas irritiert. Hexen, Flüche, Nachzehrer …«
»Nun, lassen Sie es mich an einem Beispiel erklären. Nehmen wir an, ich würde Groll auf meine neue Nachbarin hegen, diese neugierige Pute, deren Katze stets in meinem Garten herumstreunt. Nennen wir die Gute Micaela. Und nehmen wir an, ich wäre der Anhänger einer Gottheit des Totenreiches. Hades zum Beispiel - er herrschte in der Antike über die Unterwelt. Ich würde ihn bitten, meine Nachbarin mit einem Fluch zu belegen. Und da ich ein guter Gläubiger bin, würde er mir meinen Wunsch erfüllen.« Mit einem Schmatzen löste er seinen Zahnersatz vom Zahnfleisch, um ihn gleich darauf wieder aufzusetzen.
Na lecker. Der Appetit auf den Früchtetee und die
Brote war Evelyn vergangen. Sie rümpfte die Nase und schob die Teetasse von sich. »Also entstehen die Nachzehrer durch die Missgunst irgendeines Gläubigen, dem solch ein Gott wohlgesonnen ist?«
»Nicht unbedingt. Es kann verschiedene Gründe dafür geben. Das wäre einer davon. Aber zurück zu unseren Überlegungen. Sobald Micaela, die Nachbarin, schwanger wird, würde Hades ihr Ungeborenes mit dem Fluch belegen. Nur dieses eine - die anderen Kinder und Micaela selbst wären davon nicht betroffen.«
»Das ist ziemlich unfair, ein Kind für das Vergehen der Mutter zu bestrafen.«
Hermann Herzhoff verzog bitter das Gesicht und stellte seine Teetasse ab. »Wer behauptet, Götter seien fair? Außerdem: Was kann es für eine Mutter Schlimmeres geben, als zuzusehen, wie ihr Kind stirbt? Nun ja, das Baby - nennen wir es A…« Er stockte. »Anton. Ja, Anton, ist doch ein schöner Name. Er würde also zur Welt kommen und sich prächtig entwickeln. Doch irgendwann - sollte kein Unfall dem zuvorkommen - würde er an einer Krankheit sterben, ob als Kind, Teenager oder junger Erwachsener - er stirbt noch vor seiner Mutter, so viel ist sicher. Im Sarg wacht Anton auf und giert nach der Lebensenergie seiner Verwandten. Einen nach dem anderen zieht er sie ins Grab.« Sein Kinn begann zu zittern. Die
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