Schattenseelen Roman
sie beschwingt und federleicht. Nur ein Hauch, und sie würde davonschweben. Evelyn schloss die Augen. »Halt mich fest und sei endlich still.«
Seine Arme legten sich um ihre Taille. Er zog sie zu sich heran und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Evelyn lehnte den Kopf an seine Brust. Kein Herzschlag. Sie brauchte nichts zu sagen, denn ihre Gedanken wurden zu seinen.
»Es ist schon lange tot«, antwortete er.
Evelyn schloss die Augen. Sie wurde zu seiner Seele, seinem Leben und seinem Leid. Schmerz und Verzweiflung, Angst und Einsamkeit bedeckten sein Inneres wie kalte Asche. Doch inmitten dieser Trostlosigkeit
spürte Evelyn einen Hauch von Wärme. Wer auch immer das Feuer hier zertreten hatte, ein Funke war noch nicht erloschen. Evelyn schmiegte sich an seine Brust. Von weit her vernahm sie einen dumpfen Schlag. Noch einen. Als fürchtete es, zum Leben zu erwachen, begann sein Herz zu schlagen.
Sie schaute auf. Vertraust du mir? , fragte sie stumm.
Vorsichtig erwiderte er ihr Lächeln und zeichnete mit einem Finger ihren Mund nach. Ja.
Sie wand sich aus seiner Umarmung und lachte auf. »Dein Fehler.«
Wie ein Dolch stieß ihre Hand in seine Brust, durchbrach die Rippen und riss das Fleisch auf. Ihre Finger schlossen sich um sein Herz. Mit einem Ruck riss sie es heraus, und das warme, zähe Blut strömte ihren Unterarm hinunter.
Abrupt wachte Evelyn auf und starrte keuchend auf die Vorhänge an ihrem Bett. Was am Abend noch so gemütlich wirkte, schien sie heute zu erdrücken. Sie sprang aus dem Bett und flüchtete ins Bad, das an ihr Zimmer grenzte. Sie duschte sich und zog die Sachen an, die Maria am Abend zuvor für sie bereitgelegt hatte.
Sie musste mehr über die Nachzehrer erfahren. Vielleicht würde sie dann herausfinden, wie sie diesen Zustand umkehren, ja sogar heilen konnte. Irgendeinen Ausweg musste es doch geben!
In einem der Räume fand sie einen Computer. Sie
schaltete ihn ein. Zum Glück war er nicht passwortgeschützt und verfügte über einen Internetzugang.
Evelyn stürzte sich in die Recherche, doch auch nach einer Stunde konnte sie nicht viel Neues erfahren. Sie kombinierte alle möglichen Begriffe und fütterte die Suchmaschine damit. Mehrmals stieß sie auf einen Namen, der in Verbindung mit dem Mythos der Nachzehrer stand: Hermann Herzhoff. Sie gab den Namen ein.
Hermann Herzhoff entpuppte sich als ehemaliger Professor für Mythologie an der Universität Hamburg, der inzwischen seinen Ruhestand genoss. Das Telefonbuch spuckte nur einen Hermann Herzhoff in ganz Hamburg aus. Evelyn suchte nach Stift und Papier und notierte sich die Adresse.
Evelyns Magen knurrte. Sie musste endlich etwas essen! Die Erinnerung an die verunstalteten Teenager erschütterte sie. So ein Mahl brauchte sie garantiert nicht. Was sie brauchte, war ganz normales Essen; schließlich hatte sie bisher auch überlebt, ohne jemanden umzubringen.
Hatte sie das wirklich?
Sie ließ die Zweifel nicht zu. Auf keinen Fall durfte sie an die alte Frau im Krankenhaus denken! Und auch nicht an andere vor ihr, die du trösten wolltest und denen du in Wirklichkeit die Lebensenergie geraubt hast? Nein! Sie war keine Untote. Egal, was ihr Maria einzureden versucht hatte.
Allerdings hatte sie kein Geld, und zu Fuß zu ihrer
Wohnung dürfte sie lange unterwegs sein. Sofern sie die Villa überhaupt verlassen durfte. Eines stand fest: Sie musste klauen. Entweder die Brötchen beim Bäcker oder, nachdem es im Haus nichts zu essen gab, irgendwo hier ein bisschen Geld. Sie entschied sich für Letzteres, zumal sie es in diesem Fall als ›ausgeborgt‹ betrachten und so ihr Gewissen wenigstens etwas beruhigen konnte.
Sie schlich zum Schlafzimmer, in dem Adrián lag. Nach einem Hadern mit sich selbst, wobei der Hunger ziemlich rasch alle ihre moralischen Einwände niederrang, setzte sie sich an den Bettrand. Die Wunde an seinem Hals hatte sich zusammengezogen, und nur eine rötliche Narbe erinnerte an den Schrecken. War das ein gutes Zeichen? Würde er bald aufwachen?
Das seltsame Verlangen, das Evelyn im Traum beherrscht hatte, kehrte zurück. Es war wie ein Fluch. Noch nie hatte sie einen Mann so stark begehrt, bis es schmerzte, bis es sie halb verrückt machte, ihn nicht zu berühren.
Vielleicht solltest du es einfach tun. Was ist schon dabei?, flüsterte ein Stimmchen in ihrem Kopf.
Evelyn schob ihre Hand in den Ausschnitt seines Hemdes. Seine Haut fühlte sich leichenkalt an. Ihre Finger glitten über die deutlich
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