Schattenseelen Roman
gegessen.
»Nun, ich könnte Sie stundenlang damit unterhalten.« Der Professor strich die Falten der Decke glatt. »Man nennt sie auch Gierrach, Dodeleker oder Totenküsser. Sie saugen den Menschen die Lebensenergie aus. Früher war die Annahme gebräuchlich, dass die Mythen der Nachzehrer nur im Osten und Nordosten Deutschlands Verbreitung fanden. Allerdings hat man auch im Ruhrgebiet Särge mit entsprechenden Leichen gefunden.«
»Was meinen Sie mit ›entsprechend‹?«
»Nun, man begräbt seine Lieben nicht ohne Grund mit dem Gesicht nach unten, man fesselt ihnen nicht die Hände mit einem Rosenkranz, wenn nichts zu befürchten ist. Und man streut auch keine Kieselsteine in die Särge, wenn man niemanden darin ein Weilchen beschäftigen möchte.«
»Kieselsteine?« »Erbsen auch.« Er winkte ab. »Einer der Versuche, einen Nachzehrer zu bannen. Dem Glauben nach
muss ein Totenküsser zuerst die Steinchen aufzählen, bevor er über seine Opfer herfallen kann. Und da er eine Teufelskreatur ist, ist es ihm angeblich unmöglich, die Zahl der Dreifaltigkeit auszusprechen.«
Evelyn hielt inne. Konnte auch sie die Zahl nicht aussprechen?
»Drei«, kam es zögernd über ihre Lippen.
Der Professor nickte. »Alles Bockmist, Verzeihung für den Ausdruck. Es gibt keine wirkungsvolle Methode, einen Gierrach zu bannen. Außer vielleicht mit einem Ritual, Schwarzer Magie, mit der diese Kreatur zu einer solchen beschworen wurde.«
»Wie steht es mit dem Sonnenlicht?« Evelyn knabberte an einem Keks. Auch dieser rief bei ihr keine Übelkeit hervor. Ganz anders als die Geschichten des Professors.
»Sie sind allergisch gegen die UV-Strahlen. Einige mehr, andere weniger. Aber auch das wird sie nicht umbringen, ihnen vielleicht bloß hässliche Blasen bescheren. Die Sonne entzieht ihnen die Energie, deshalb meiden die Nachzehrer es, ein Sonnenbad zu nehmen.« Er kratzte sich an der Nasenspitze. »Wussten Sie, dass Totenküsser als Kinder mit Zähnen zur Welt kommen?«
»Ja.«
»Und dass es Fälle gegeben haben soll, wo sie ihre Mütter von innen aufgefressen haben?«
Evelyn musste sich räuspern. Die Kekskrümel kratzten ihr die Kehle auf. Sie hustete. »Nein.«
»Es sind grausame Kreaturen, meine Liebe, und wahrhaftig unsterblich. Zwar kursieren Meinungen, ein Pflock ins Herz, Verbrennen oder Köpfen könnten sie vernichten, aber das ist Quatsch mit Soße. Diese Wesen sterben, wachen irgendwann auf, und wenn sie genug Energie verspeist haben, kommen sie als Wiedergänger zurück.« Er schüttelte den Kopf und murmelte: »Und dann soll mir einer was von Vampiren erzählen. Die sind im Vergleich noch nette Zeitgenossen.«
»Es gibt in der Tat Vampire?«, hauchte Evelyn erschrocken. Fast hätte sie sich schon wieder verschluckt.
Der alte Mann lachte auf. »Ich kenne keinen, der Gütige sei mir gnädig.«
»Nun gut, und was genau unterscheidet die Nachzehrer von den Vampiren?«
Der Professor begann, an den Fingern abzuzählen. »Ihre Opfer werden nicht zu ihresgleichen. Ein Totenküsser entsteht nur durch die Schwarze Magie einer Hexe, oder er gibt den Fluch an seinen Nachkommen weiter. Pflöcke, Kreuze, Köpfen, Weihwasser dürften bei ihnen eine eher enttäuschende Wirkung haben - es ist unmöglich, einen Nachzehrer umzubringen. Außer …«, er hob den Zeigefinger, »… sie hungern aus - aber ich würde mich nicht auf diese Auskunft verlassen. Sie saugen kein Blut, sondern die Lebensenergie aus. Ihre toten Körper bleiben im Grab, deshalb nehmen einige an, ein Totenküsser verließe niemals
den Sarg. Das tut er, sobald er dazu genug Energie hat, aber zuerst kehrt er als Geist wieder.«
»Den Sie als Wiedergänger bezeichnen«, nahm Evelyn den Faden wieder auf. »Bis sie so viel Lebensenergie aufgenommen haben, dass sie sich materialisieren, wieder fassbar werden.«
»Interessant. Das ist nur wenigen bekannt.« Der Professor kniff die Augen zusammen und beugte sich ein Stück vor. »Woher wissen Sie das?«
»Hab’s irgendwo gelesen. Nicht der Rede wert.«
Der alte Mann nahm einen großen Schluck Tee und lehnte sich zurück in den Sessel. Doch gänzlich überzeugt schien er nicht zu sein, eine Spur von Misstrauen schlich sich auf sein Gesicht. Trotzdem erzählte er weiter: »Die ersten Vorkommnisse der Nachzehrer wurden am Anfang der Pestzeit aufgezeichnet. Sie sind die Verursacher der Seuche. Sie haben ganze Dörfer und Städte ausgelöscht. Eine schreckliche Plage für die Sünden der Menschen.« Hermann
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