Schattenseelen Roman
dir.«
»Ich kann es ihm nicht verübeln. Es ist eine lange
Geschichte.« Adrián senkte die Stimme, bis Evelyn ihn kaum verstehen konnte. Was auch immer vorgefallen war, es tat ihm weh. Sie konnte seinen Schmerz wie ihren eigenen spüren.
»Ich habe Zeit.«
»Ich aber nicht. Lass uns lieber über etwas anderes reden.«
»Soll ich es selbst herausfinden?« Ihr schlechtes Gewissen meldete sich, weil sie ihn bedrängte, doch sie erstickte die Widerrede im Keim.
Er hob abwehrend die Hände. »Ist gut, ist gut. Ich erzähle dir alles, wenn du mir versprichst, Hermann in Ruhe zu lassen.«
»Abgemacht. Also, wer ist dieser Herzhoff?«
»Er ist alles für mich. Mein bester Freund, mein größter Feind. Mein Schwager.«
»Dein Schwager?« Evelyn fiel es schwer, sich den achtzigjährigen Mann als Adriáns Schwager vorzustellen, aber warum nicht? Hermann Herzhoff alterte, Adrián blieb ewig jung.
»Er war mit meiner Schwester verheiratet. Durch mich haben sie einander kennengelernt.« Adrián hob das Bild auf, das bei seinem Sturz von der Wand gefallen war, und befreite es von dem zerschlagenen Rahmen. »Ich stamme aus einer armen Familie. Meinen Erzeuger habe ich nie zu Gesicht bekommen. Ich nehme an, er ist ein Nachzehrer, von dem ich den Fluch geerbt hatte. Vielleicht treffe ich ihn irgendwann, ich hätte ihm nämlich viel zu sagen.«
»Nachzehrer können Kinder zeugen?«
»Die Männer sind zeugungsfähig, wenn die Partnerin ein Mensch ist.«
»Das finde ich ungerecht. Wieso können Nachzehrer-Frauen keine Kinder bekommen?«
»In totem Fleisch kann kein neues Leben heranwachsen. Als ich drei war, hat meine Mutter geheiratet, und ich bekam meinen Bruder Alejandro und zwei Jahre später meine Schwester Alba.«
Er schwieg. Evelyn wartete darauf, dass er fortfuhr, doch lange konnte sie ihre Neugier nicht im Zaum halten. »Und weiter?«
»Unser Vater ist gestorben, und ich musste die Familie über die Runden bringen. 1955 bin ich als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Hier habe ich Hermann kennengelernt. Wir haben uns prima verstanden, und im nächsten Sommer habe ich ihn nach Spanien eingeladen. Mein Fehler, ich weiß. Alba hat sich in ihn verschossen. Ich war dagegen, dachte, sie wäre für ihn nur ein Sommerflirt. Doch er meinte es ernst. Am Ende seines Urlaubs haben Alba und er geheiratet. Das war im Sommer 1956, der glücklichste für uns alle. Ein Jahr danach bin ich gestorben.«
»Woran?«
»Lungenentzündung. Nichts Spektakuläres.«
Sie ahnte, was gleich kommen sollte. Der Teil, in dem Hermann zu seinem größten Feind wird.
»Um aufzuerstehen, hast du deine Familie ausgesaugt. Du hast alle getötet, auch Alba, nicht wahr?«
Den anklagenden Unterton konnte Evelyn nicht verbergen. Es überstieg ihre Vorstellungskraft, wie jemand sich an der eigenen Familie nähren konnte.
Anscheinend hatte Adrián die schlecht verborgene Ablehnung gespürt.
»Ich kann nichts zu meiner Verteidigung sagen.« Auf einmal stand er dicht neben ihr. Mit den Händen umschloss er ihr Gesicht. Seine Augen verwandelten sich in Eiskristalle, die Pupillen wurden winzig klein. »Ich werde es dir zeigen.«
Sie zerbrach an seinem Blick, der wie ein Messer in ihren Leib schnitt, und ertrank in seinen Gefühlen. Ihr Herz blieb stehen. Ihre Beine gaben nach, und eine undurchdringliche Nacht umhüllte ihre Sinne.
Evelyn wachte auf, wollte schreien, sich aufrichten, fortlaufen. Zu tief saß der Schrecken, den ihr der eigene Tod und der leidvolle Weg dorthin eingebracht hatten.
Doch sie konnte sich nicht rühren. Gefangen in einem toten Körper, wurde sie sich ihrer Umgebung bewusst, konnte alles sehen, obwohl rundum vollkommene Dunkelheit herrschte. Sie lag in einem Sarg, umschlossen von Holzwänden. Das Gewicht der Erde hatte die Bretter über ihr eingedrückt.
Zusammen mit dem Bewusstsein kam der Hunger. Wie eine Weißglut brodelte er in ihrem Magen, als stächen Dutzende von heißen Klingen in ihr Fleisch und schnitten alles in Kleinstücke.
Wände, überall Wände. Sie rückten näher, quetschten sie ein wie in einem Schraubstock. Panik überflutete ihre Sinne, doch es gab kein Entrinnen.
Padre nuestro, que estás en el cielo …
Aber Gott hörte sie nicht. Sie war allein gelassen mit ihrem Hunger, in der Enge, die sie erdrückte. Sie musste raus! Sie konnte es nicht länger aushalten! Doch alle Bemühungen, sich zu bewegen, waren umsonst. Ihre Hände waren mit einem Rosenkranz gefesselt, etwas Wurmartiges ringelte
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