Schattenspäher
lässt.«
»Wir sollten lieber aufbrechen.« Eisenfuß deutete auf den Uhrenturm über den Docks. »Unser Treffen ist in einer Stunde.«
»Einen Moment noch«, sagte Sela. »Ich würde zu gern mal über den Rand schauen. Darf ich?«
»Ich begleite dich«, sagte Silberdun.
Sie ließen die Docks hinter sich und traten an eine Reling im Norden der Plattform. Die Docks befanden sich auf der untersten Ebene der Stadt, sodass nichts ihren Blick in die Tiefe störte.
Sela lehnte sich über die Brüstung der Stadt und schaute hinab. Die Erde schien so weit entfernt. Irgendwo da unten verlief ein silbernes Band, das Sela als Fluss identifizierte. Wuchtige Felsen wirkten von hier oben wie kleine Kieselsteine. Und die winzigen Pünktchen waren Baumkronen, die im Mondlicht grün-grau wirkten. Sie entdeckte auch ein tintenschwarzes Oval am Boden.
»Was ist das?«, fragte sie. »Ein See?«
Silberdun folgte ihrem Blick. »Das ist die Umbra«, sagte er, »der Schatten der Stadt. Es soll großes Unglück bringen, wenn man in ihn tritt.«
Aus irgendeinem Grund fühlte sich Sela beim Anblick dieses riesigen dunklen Schattens plötzlich sehr unwohl.
»Vielleicht können wir die Besichtigung ein anderes Mal fortsetzen«, meinte Eisenfuß. Sela spürte, dass er ein wenig besorgt war.
»Natürlich«, sagte sie. »Es tut mir leid, ich wollte es mir nur unbedingt mal ansehen.«
»Ich schon in Ordnung«, sagte er, und er meinte es auch so. »Aber wir müssen jetzt wirklich los.
Über prächtige Treppen und weitläufige Avenuen bahnten sie sich ihren Weg durch die Stadt, dabei sich stetig empor bewegend, von Ebene zu Ebene. Es war eine Nacht der Feierlichkeiten, sodass die Straßen voll ausgelassener Zecher waren, die den Sommeranfang begrüßten. Sowohl der Frühling als auch der Herbst waren in den Unseelie-Landen bitterkalt, und Sela hatte gehört, dass in einigen nördlicheren Städten sogar im Herbst noch Schnee fiel.
Langsam schoben sie sich durch die überfüllten Straßen, in denen Trommler im Kreis saßen und den Takt der neuen Jahreszeit schlugen. Die Fae von Preyia tanzten dazu, lächelten, lachten, sangen Strophe für Strophe der Sommerlieder.
»Schaut euch nur die Leute an«, sagte Sela.
»Wieso? Was ist mit ihnen?«, fragte Silberdun.
»Sie sehen so fröhlich aus. So glücklich.«
»Ja und?«, meinte Eisenfuß, der zu den Klängen mitgepfiffen hatte.
»Aber das sind doch unsere Feinde, oder nicht? Wie kann das sein? Sie wirken so freundlich.«
»Erzähl denen mal, dass du eine Seelie-Spionin bist, dann siehst du, was Freundlichkeit ist.« Silberdun zwinkerte ihr zu.
Es waren Momente wie diese, wo ihr die Empathie keine segensreiche Gabe mehr war. Ein chaotisches Durcheinander von Fäden vibrierte am Rande ihrer Wahrnehmung und wollte sie mit hineinziehen. Und sie wollte hineingezogen werden. Wie viele von ihnen könnte sie auf der Stelle töten, bevor man sie überwältigte? Wie viel von dieser Freude konnte sie übertönen?
Sobald sie von Lebenslust und Freude umgeben war, musste sie automatisch an Schmerz denken. So hatte es Lord Tanen ihr beigebracht. Der Abgrund lauerte überall, stets darauf wartend, sie hinabzuziehen. Wenn sie sich dem Glück hingab, wenn sie sich vom Taumel mitreißen ließ, würde sie vernichtet. In Haus Katzengold hatte es geheißen, das sei eine Lüge, die man ihr erzählt habe, damit sie Lord Tanens grausamen Wünschen entsprach. Doch sie wusste, dass es stimmte. Wenn sie sich während eines Festes gehen ließ, würde sie es nie wieder verlassen. Und der Gedanke ängstigte sie fast zu Tode.
Je weiter sie hinaufstiegen, desto mehr lichtete sich die Menge, und auch die Beleuchtung wurde spärlicher. Die höheren Ebenen waren den reicheren Bewohnern und den Regierungsgebäuden vorbehalten. Als sie die letzte Treppenflucht hinauf zum Opal-Plateau erklommen, der zweithöchsten Ebene der Stadt, ging Sela allmählich die Puste aus, wohingegen Eisenfuß und Silberdun kaum außer Atem waren.
So unauffällig wie möglich warf Silberdun einen Blick in seine Karte. »Hier entlang.« Er deutete in eine enge Gasse. Nun begann der gefährlichere Teil ihrer Mission. Wenn die Stadtwachen sie auf dem Opal-Plateau zur Rede stellten, war ihre Anwesenheit im Viertel der Reichen nur schwer zu erklären.
Ein paar Kutschen rollten vorbei, doch niemand hielt an. Hier und da stiegen Feiernde in bunten Kostümen aus ihren Fahrzeugen, müde, doch immer noch in Festtagsstimmung.
Sie erreichten ihr Ziel
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