Schattenspäher
weiß, warum.
Sie hört Lord Tanens Kutsche, noch bevor sie das Gefährt sehen kann. Sie sitzt auf den Stufen des Herrenhauses, windet eine Kette aus Gänseblümchen, bohrt mit einer gestohlenen Nähnadel Löcher in die Stängel und schiebt den nächsten Stängel hindurch, Blume für Blume. Das wird den Vetteln nicht gefallen, doch sie denkt, dass man sie an ihrem Geburtstag nicht dafür bestrafen wird. Sie hat das Blumenarmband fast fertig, als sie Hufschläge durch die Bäume hallen hört.
Lord Tanen entsteigt seiner Kutsche, und sie sieht, dass er nicht allein gekommen ist. Er reicht der zweiten Person seine Hand, und Sela erkennt, dass es ein Mädchen ist. Sie ist in Selas Alter und trägt ein weißes Leinengewand. Ihr Haar ist golden und zu glänzenden Flechten aufgesteckt, das Gesicht ist sauber geschrubbt. Sela springt auf und rennt auf die Kutsche zu, doch auf halbem Wege hält sie erschrocken inne.
Was, wenn dieses Mädchen hergebracht wurde, um ihren Platz einzunehmen? Was, wenn der Kutscher sie von hier fortbringen würde, um sie irgendwo im finstren Walde auszusetzen? In den Märchen passierte dergleichen oft. Ein Mädchen wird von einem grausamen Elternteil verschleppt - für gewöhnlich von der Stiefmutter - und zum Sterben im Wald zurückgelassen. Auf der anderen Seite wurde aus diesen armen Mädchen meistens eine Prinzessin. Die Vetteln hatten Sela erzählt, dass ihre Eltern inzwischen gestorben waren und sie niemals allein zurechtkommen würde und ihr einziger Wert der war, den Lord Tanen ihr zugestand.
Doch ihre düsteren Gedanken verflüchtigen sich, als das fremde Mädchen sie anlächelt und dabei eine Reihe schiefer Zähne unter den blauen Augen entblößt.
»Herzlichen Glückwunsch, Sela«, sagt sie.
»Wer bist du?«, fragt Sela verblüfft.
»Ich heiße Milla«, sagt das Mädchen.
Erstaunt blickt Sela zu Lord Tanen auf.
»Das ist dein Geburtstagsgeschenkt, Sela«, sagt Tanen. »Ein ganz besonderes Geschenk für einen besonders wichtigen Geburtstag.«
Sela versteht noch immer nicht.
»Ich habe dir eine Freundin mitgebracht, Sela. Ich brachte dir jemanden, den du lieben kannst.«
Jemand stieß sie an, und Sela erwachte. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Sonnenlicht, blauer Himmel, weicher Sessel. Sie befand sich noch immer an Bord von Mabs Verachtung.
Silberdun beugte sich zu ihr. »Kamelienblüten«, raunte er ihr ins Ohr.
»Was?«, murmelte sie.
»Oder Lorbeerblüten. Was auch immer. Es ist jedenfalls Ärger im Verzug«, flüsterte er.
»Wie lange hab ich geschlafen?«, wisperte sie zurück.
»Etwa eine Stunde. Du hast übrigens auch ein bisschen dabei gesabbert.«
Irritiert wischte sie sich mit dem Handrücken übers Kinn. »Was ist denn los?«, fragte sie.
»Vor ein paar Minuten hab ich gesehen, wie eine Botenfee vor dem Fenster vorbei und Richtung Hauptdeck geflogen ist.«
»Ja und?«
Der junge Familienvater ihnen gegenüber warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie lächelte ihm zu und küsste Silberdun auf die Wange. Sie suchte nach einem Faden zwischen sich und dem jungen Mann und fand ihn. Er war müde und hungrig und auch bisschen argwöhnisch. Alles in bester Ordnung , schickte sie durch das Band. Er schien sich wieder zu entspannen.
»Es gab ein wenig Unruhe an Deck, und dann kamen sie hier runter.« Silberdun nickte in Richtung des Gangs zwischen den Sitzreihen, auf dem die Unseelie-Soldaten, die sie an Deck gesehen hatten, nun langsam auf sie zukamen. Die Männer schienen die Fahrgäste zu inspizieren.
Sela sah hinüber zu Eisenfuß, der sich hinter einer Zeitung vergraben hatte,
»Glaubst du, die sind hinter uns her?«, fragte sie.
»Was weiß ich«, meinte Silberdun. »Wie auch immer, wir sollten keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen.«
Sela richtete ihre Gefühle auf die Soldaten, aber es nützte nichts. Sie brauchte eine Art emotionale Verbindung, um einen Faden zu erspüren, doch bis jetzt wussten die Soldaten ja noch gar nicht, dass es sie überhaupt gab. Bis jetzt.
Sie kamen in dem Gang immer näher und inspizierten dabei die Reihen. Jetzt konnte Sela einige Gesprächsfetzen aufschnappen.
»... zwei Männer und eine Frau ...«
»... verdächtige Personen ...«
Sela sah, dass der junge Familienvater ihr gegenüber sie wieder neugierig anstarrte.
Wieder beugte sich Silberdun zu ihr. »Ich werde mal was versuchen. Spiel einfach mit.«
Er lehnte sich nach vorn und sprach den jungen Mann an: »Habt Ihr vielleicht einen Schluck Wasser für
Weitere Kostenlose Bücher