Schattenspäher
Silberdun, doch Lin Vo schnitt ihm das Wort ab. »Bitte schweigt, während der Tee gereicht wird«, sagte sie streng.
Als alle Tassen gefüllt waren, erhob Lin Vo die ihre und sah in die Runde. »Die Arami heißen Euch herzlich willkommen.« Sie tranken einen Schluck.
»Nun«, fuhr sie fort und unterbrach Silberdun, der gerade den Mund öffnen wollte, damit ein weiteres Mal. »Ich denke, wir können uns das förmliche Vorstellen sparen. Ich weiß, wer Ihr seid und warum es Euch hierher verschlagen hat.«
»Ihr besitzt die Gabe der Vorahnung«, sagte Silberdun.
Lin Vo verzog spöttisch das Gesicht. »Ihr und Eure Gaben. Bei Euch muss alles immer klar geregelt sein. Zwölf Gaben, zwölf Monate im Jahr, zwölf Konstellationen, die auf Euch herabblicken. Habt Ihr jemals eine chthonische Kynosure gesehen? Großer Dodekaeder. Man könnte stundenlang über die ganzen Linien, Facetten und Eckpunkte darauf sinnieren - und darüber, was sie wohl bedeuten.«
»Was wollt Ihr von uns?«, fragte Timha barsch. Es waren die ersten Worte, die er seit ihrer Ankunft im Arami-Lager gesprochen hatte, und er hatte ganz offensichtlich Angst.
Lin Vo lachte auf. »Ach, Reisender Timha. Ihr fürchtet Euch, und ich weiß, warum. Aber das ist keine Entschuldigung dafür, unhöflich zu sein. Davon abgesehen geht's hier nicht darum, was ich von Euch will - nämlich gar nichts -, sondern vielmehr darum, was Ihr von mir braucht.«
»Und was sollte das sein?«, fragte Silberdun.
»Nun ja, mir scheint, dass Ihr so einiges braucht. Immerhin müsst Ihr mit dem guten Timha im Schlepptau dahin zurückkehren, wo Ihr hergekommen seid. Und um das zu bewerkstelligen, muss Euch Je Wen zur Grenze führen. Ihr wäret nämlich innerhalb zweier Tage tot, wenn Ihr's auf eigene Faust versuchen wolltet.«
»Wieder eine Eurer Vorahnungen?«, fragte Eisenfuß.
»Mehr die Feststellung des Unvermeidlichen«, meinte Lin Vo. »Die Leute aus den Wolken haben ein Talent, in Erdrisse zu stolpern oder von Wölfen zerfleischt zu werden.«
»Das ist doch Blödsinn«, sagte Timha. »Vorahnung oder nicht, diese Frau lügt. Höchstwahrscheinlich will sie uns als Geiseln festhalten und erzählt uns diese Märchen, damit wir uns ruhig verhalten und nicht fliehen.«
»Ich sehe, Ihr habt nicht vor, es mir leicht zu machen«, sagte Lin Vo zu Timha. »Dann lasst es uns jetzt gleich hinter uns bringen. Ihr denkt also, Ihr braucht nur ein bisschen mit dem Finger unter Eurer Robe zu schnippen, und ich werde tot umfallen, woraufhin Ihr Euch einen Weg hier herauskämpfen werdet, richtig?«
Timha starrte die Frau finster an, doch er schwieg.
»Was jedoch wirklich passieren wird, ist Folgendes«, fuhr Lin Vo fort. »Ihr werdet es versuchen und kläglich scheitern, dann werdet Ihr Euch wieder beruhigen und zuhören, und am Ende werdet Ihr ›Vielen Dank, Lin Vo‹ sagen, bevor ich Euch im Morgengrauen zu Je Wen schicken werde.«
Timha sagte noch immer nichts. Lin Vo sah zu Eisenfuß und meinte: »Und jetzt passt gut auf, Eisenfuß, das wird Euch gefallen.«
Noch während sie ihm den Rücken zuwandte, zeichnete Timha ein Siegel der Entfesselung in die Luft. Damit wurde ein Spruch ausgelöst, den er sich zuvor im Geiste zurechtgelegt und mit einer Bindung versehen hatte, um ihn in Schach zu halten. Das Siegel sagte Eisenfuß nichts, doch als sich das re um ihn herum verdichtete, erkannte er augenblicklich, was Timha vorhatte. Er erschuf einen Raum aus Bewegung um Lin Vo und sperrte jegliche Schwingung in einer Blase um sie herum ein. Nicht nur würde diese Kugel Lin Vo bewegungslos machen, sie würde auch ihren Körper und die Luft um sie herum immer weiter verfestigen und Lin Vo damit töten. Lin Vo jedoch rührte sich nicht und schaute Timha nur enttäuscht an.
Eisenfuß verfolgte das Geschehen sehr genau; zusammen mit seiner Stärke und den anderen Sinnen war auch sein re -Gespür verbessert worden. Was hatte Jedron auf Kastell Weißenberg bloß mit ihm angestellt? Und so konnte er ihn förmlich sehen: Timhas Essenzfluss, der in Form von Bewegung kanalisiert wurde und Lin Vo nun ganz umhüllte. Sie würde unweigerlich daran sterben.
»Timha!«, schrie Silberdun, der das Geschehen vermutlich ebenfalls mit eigenen Augen verfolgen konnte. »Hör auf damit!«
Eisenfuß wollte aufspringen, um einzugreifen, doch in diesem Moment geschah etwas Seltsames. Lin Vo rührte sich nicht, und doch ging ein warmer Strahl re von ihr aus und erfüllte das Zelt. Allerdings war das re von einer
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