Schattenspäher
riss unter einem Schauer aus Staub das Erdreich unter der Stadt auf. Das Netz knautschte sich zusammen und verteilte seinen Inhalt unter sich. Vieles fiel direkt in die neu entstandene Erdspalte, die das Erdbeben geschaffen hatte.
»Wundervoll, oder?«, bemerkte Je Wen. »Alles kehrt am Ende an seinen Ursprung zurück.«
»Wundervoll« war nicht unbedingt das erste Wort, das Eisenfuß bei diesem Schauspiel in den Sinn kann, wenngleich es ganz sicher eindrucksvoll war. Er beobachtete, wie Preyia einer Wolke gleich am Himmel davonzog, und irgendwie war er froh darüber.
Die Karren erreichten das Ende der hochgewachsenen Getreideflächen, holperten unbeirrt von den kleinen Nachbeben weiter. Sie fuhren auf eine hügelige, steinige Ebene hinaus, auf der hier und da winzige Dornenbüsche wuchsen, und bogen auf eine zerfurchte Piste ein, die direkt auf ein kleines Tal zuführte. Ab und an verschwand der Pfad einfach, um einige Meter weiter wieder zu erscheinen, vollführte hier und da abenteuerlicher Zickzackkurven, als ob der Boden darunter auseinandergerissen und an anderer, unerwarteter Stelle wieder zusammengefügt worden war. In der Ferne hörten sie Wolfsgeheul, das die Ziegen ganz offenbar irritierte, doch man bekam die Raubtiere nie zu Gesicht.
Der Treck erreicht das Tal. Hier standen zahlreiche Zelte, und rund um ein großes Lagerfeuer waren viele Kochstellen errichtet worden. In einem Gatter in der Nähe standen weitere Ziegen. Als die Wagen ins Lager fuhren, kamen zahlreiche Kinder aus den Zelten gerannt. Die Kleinen trugen ein ziemliches Durcheinander aus Unseelie-Kleidung, verblichenen Festtagsgewändern und grob gewebten Bürgertuniken. Dabei riefen sie Worte in einer seltsamen, abgehackt klingenden Sprache, die Eisenfuß nicht kannte. Als die Kinder jedoch Eisenfuß, Timha, Sela und Silberdun erblickten, blieben sie abrupt stehen und sahen Je Wen fragend an.
Je Wen richtete in derselben schnellen Sprache das Wort an die Kleinen, die daraufhin folgsam die Fuhrwerke entluden. Dabei hielten sich die Kinder den Fremden gegenüber in gemessenem Abstand.
Plötzlich trat aus einem der Zelte eine sehr große und sehr schlanke Frau, die nun auf die Karren zuschritt. Sie trug ein Männerhemd aus Seide und den Rock einer Dienstmagd. Um ihren Hals lag eine Kette aus Holzperlen. Sämtliche Arami hielten in ihrem Tun inne, als die Frau nähertrat. Ganz offensichtlich war sie eine Respektsperson. Sie erreichte Je Wens Karren; ihr stummer Blick wanderte von Silberdun zu Sela, von Eisenfuß zu Timha. Im ganzen Lager war es mit einem Mal totenstill geworden. Jetzt, aus der Nähe, stellte Silberdun fest, dass die Frau bereits mittleren Alters war, vielleicht um die vierzig. Schon zeigten sich die ersten grauen Strähnen in ihrem welligen schwarzen Haar.
Schließlich kratzte sich die Frau am Kopf und sagte in einwandfreier Gemeinsprache: »Ich hab mich schon gefragt, wann ihr vier hier erscheinen würdet.«
Die Frau hieß Lin Vo und war die Stammesführerin. Sie geleitete die Neuankömmlinge in ihr Zelt, das sich von den anderen nicht unterschied; tatsächlich war es sogar ein wenig kleiner. Das Innere der Behausung war einfach und stilmäßig genauso wild zusammengewürfelt wie ihre Kleidung. Nichts passte zusammen, und so manches Möbelstück wirkte ziemlich ungeeignet für ein Nomadenleben. Von den hölzernen Pfosten eines schweren Mahagonibettes hing ein halbtransparenter Gazehimmel; der Bettrahmen war zerbrochen, jedoch wieder erfolgreich zusammengenagelt worden. Die Bettwäsche bestand aus Seide, war allerdings mit Weinflecken übersät.
»Darf ich Euch einen Tee anbieten?«, fragte Lin Vo, als endlich alle auf den bequemen Sitzkissen Platz genommen hatten, die auf dem mit Matten ausgelegten Boden lagen.
»Tee wäre wunderbar, vielen Dank«, sagte Sela. Sela besaß das bemerkenswerte Talent, genau zu wissen, was die Leute hören wollten, also nahm Eisenfuß das Angebot ebenfalls an.
Lin Vo ging nach draußen zu ihrer Kochstelle und kehrte mit einem zerbeulten Kessel voll heißem Wasser wieder ins Zelt zurück. Sie gab einige Teeblätter in eine irdene Kanne und übergoss das Ganze dann mit dem kochenden Wasser. Sodann stellte sie die Kanne und fünf angeschlagene Porzellantassen auf ein Silbertablett und platzierte es in der Mitte ihrer Gäste. All das tat sie, ohne ein Wort zu sprechen.
»Ihr gießt ihn ein«, sagte sie zu Sela und sah aufmerksam zu, wie Sela die Kanne hob.
»Dürfte ich fragen -«, begann
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