Schattenspäher
wenn man sich in Sicherheit wähnen kann. All die großen Errungenschaften der Zivilisation wurden von jenen gemacht, die frei von Furcht leben konnten. Ihr Irrglaube besteht darin - und wir sollen dafür sorgen, dass ihnen dieser Irrglaube nie vor Augen geführt werden möge - zu denken, dass die Zivilisation allein dadurch erhalten wird, indem man sich zivilisiert benimmt. Der Grund, warum die Schattenliga so lange existieren konnte - und das trotz des ganzen öffentlichen Geschreis ob ihrer angeblichen Existenz -, ist, dass die Machtelite beständig auf diesen Irrglauben aufmerksam gemacht wird, und zwar immer dann, wenn er ihnen wieder mal seine dreckige Faust ins Gesicht rammt.«
»Wenn Euch Dinge wie Ehre und Zivilisation so einerlei sind«, schnappte Silberdun, »warum dies alles dann überhaupt schützen? Weshalb riskiert Ihr Euer Leben für etwas, das Euch so wenig wert zu sein scheint?«
»Einer muss es doch tun. Doch wer außer mir würde es tun? Wir sind umgeben von Ignoranz und Grausamkeit, Silberdun. Die bestialischen Gnome im Süden. Und dann Mabs Legion von verblendeten, ergebenen ›Bürgern‹, die man genauso gut Sklaven nennen könnte. Andererseits weiß ein guter Sklavenhalter wenigstens den Wert seiner Investition zu schätzen. Wie dem auch sei, ich mag vielleicht wenig übrig haben für die so genannten schönen Dinge des Lebens, aber ich verabscheue die Alternative aus tiefstem Herzen. Darüber hinaus«, und hier lächelte Jedron boshaft, »liebe ich meine Arbeit.«
Eine Woche später zitierte Jedron seinen Schüler in das Studierzimmer, auf dass Silberdun die Kunst des Kartenstudiums erlerne. Es waren in der Hauptsache Karten des Faereichs: Stadtpläne; Schaubilder, welche die Bewegungsmuster der Unseelie darstellten; topografische Karten. Andere zeigten Mag Mell - die Welt der tausend Inseln; Annwn, das größtenteils entvölkert war, bis auf eine Stadt namens Blut von Arawn; die Welt von Nymaen, die hauptsächlich aus Wasser bestand und erstaunlich genau kartografiert worden war. Natürlich erwartete Jedron von ihm, dass er sich jedes noch so kleine Detail auf jeder Karte einprägte und fragte ihn den ganzen Abend über ab. Und wann immer Silberdun die falsche Antwort gab, warf Jedron mit Briefbeschwerern und Büchern nach ihm. Überhaupt schien der Meister heute ziemlich übler Laune zu sein. Auch Ilian wirkte bedrückt, was eigentlich untypisch für ihn war.
Schließlich durfte Silberdun die Karten beiseitelegen. Jedron goss ihnen beiden einen Weinbrand aus dem Dekanter ein, und dann tranken sie in aller Stille. Als Silberdun sein Glas geleert hatte, erschien Ilian aus den Schatten und geleitete ihn zurück in sein Schlafgemach.
Zurück auf seinem Zimmer, beschlich Silberdun ein schummriges Gefühl. Ein Gefühl, das ihm nicht unbekannt war. Damals an der Universität hatte er sich für einen Kurs zum Thema Gifte eingeschrieben, diesen aber nach nur einer Woche nicht mehr besucht, weshalb ihm das Fach auch nicht angerechnet worden war. Der Grund, warum er nicht mehr zum Unterricht gegangen war, war folgender: Er hatte dort versehentlich einen Trank namens Iglithbi zu sich genommen. Kein Gift im eigentlichen Sinne - die Mixtur sollte eigentlich der Entspannung dienen, wirkte jedoch in hoher Dosis tödlich. Geruchs- und geschmackslos, wurde Iglithbi vorzugsweise von Dieben und Vergewaltigern eingesetzt. Und wenn er, Silberdun, dumm genug gewesen war, dieses Zeug versehentlich zu trinken, dann war er auch dumm genug, sich damit umzubringen.
Und jetzt, allein in seinem Zimmer, hatte er nicht den geringsten Zweifel, dass man ihn mit Iglithbi betäubt hatte. Die Symptome waren unverwechselbar. Doch wie hoch war die ihm verabreichte Dosis gewesen?
Silberduns Fähigkeiten drohten ihn zu verlassen. Verzweifelt versuchte er sich an die Ingredienzien von Iglithbi zu entsinnen, an seine organischen Bestandteile wie auch an die reitischen Bindungen. Und plötzlich erinnerte er sich wieder an die Rezeptur, eines der denkbar wenigen Dinge, die ihm aus Universitätszeiten im Gedächtnis geblieben waren. Er griff hinaus mit seiner Gabe der Elemente und suchte nach einer Bindung namens Elesh-elen-tereth. Sie war leicht aufzuspüren und noch leichter zu entfesseln. Er konnte fühlen, wie die besondere Farbe ihres re durch seinen Körper strömte. Mit seiner Gabe versetzte er ihr einen Stoß und verwandelte die Elesh-elen-tereth in Wasser und spiritus sylvestris.
Leider hatte ein Gutteil des Tranks
Weitere Kostenlose Bücher