Schattenspäher
Ganzen Silberduns Dilemma. Innensicht war eine Gabe des Geistes, und Blendwerk eine des Herzens. In seinen Jugendjahren hatte er all seine Bemühungen aufs Blendwerk gerichtet, weil er so gern ein Künstler geworden wäre. Innensicht, das war die Materie der forschenden Thaumaturgen und Alchemisten. Männer, die am Schreibtisch saßen und grübelten. Silberduns Vater hatte ihn für das Studium der Innensicht begeistern wollen, da es sich bei ihr um eine vornehme und ehrenwerte Tätigkeit handele. Silberdun wusste, er hätte es in Sachen Innensicht weit bringen können, doch so, wie die Dinge standen, war aus ihm nur ein mittelmäßiger Anwender von Blendwerk geworden. Doch zumindest hatte er in dieser Hinsicht erreicht, was er wollte.
In den Morgenstunden fand der tägliche Drill mit Jedron statt. Er übte sich im Umgang mit Messern und der kleinen Arbalest, einer leichten Armbrust. Silberdun lernte das lautlose Töten, das schmerzvolle Töten und das Entwaffnen eines Gegners, ohne diesen zu töten. Dies alles mit einer kalkulierten Präzision, die ihm jeden Tag, der verging, mehr Skrupel bereitete.
Silberdun nahm seine Mahlzeiten mit Ilian ein, der wenig sprach, ihn aber nicht aus den Augen zu lassen schien. Ilian war stets in der Nähe, immer bereit, Silberdun bei den Übungen zu helfen, hier und da etwas zu richten oder Jedron sein Essen zu bringen. Jedron und Ilian hatten eine Beziehung zueinander, deren Wesen sich Silberdun nicht erschloss. Fast nie wechselten die beiden ein Wort miteinander.
Hin und wieder fragte er nach dem anderen Schüler, den der Meister erwähnte hatte, und Jedron versicherte ihm, er wäre auf der Insel und dass Silberdun ihn erst dann treffen würde, wenn er bereit sei.
Alle paar Tage lud Jedron Silberdun für einen Nachttrunk in sein Studierzimmer ein. Doch diese Abende entwickelten sich jedes Mal zu stundenlangen Lehrveranstaltungen. Darüber hinaus konnte Jedron es offenbar nicht lassen, Silberdun unerwartet stumpfe Gegenstände an den Kopf zu werfen.
Silberdun hatte das, was von seinem Bett noch übrig war, in eine notdürftige Pritsche umgewandelt. Weit besser als das unbequemste Lager, auf dem er je gelegen hatte (im bitterkalten Midwinter nach einem Tagesritt unter freiem Himmel zu nächtigen hatte in diesem Punkt natürlich den Vogel abgeschossen), aber immer noch meilenweit entfernt von paradiesischen Zuständen. Zumeist war er am Ende des Tages allerdings so müde, dass er sich am nächsten Morgen kaum mehr daran erinnern konnte, wann sein Kopf am Vorabend das Kissen berührt hatte. Auch träumte er in dieser Zeit so gut wie nie.
»Wir haben überhaupt noch nicht über Schwerter gesprochen«, sagte Silberdun nach einer langen Übungsstunde im unbewaffneten Kampf gegen Jedron. Silberdun schwitzte und schnaufte, doch Jedron war nicht mal außer Atem. Erstaunlich für einen Mann seines Alters.
»Nein«, erwiderte Jedron, »und das werden wir auch nicht.«
»Warum?«
»Das Schwert ist bei unserer Arbeit wirklich das letzte Mittel. Wenn Ihr Euch gezwungen seht, es zu ziehen, habt Ihr mit Sicherheit einen schweren Fehler gemacht.«
»Und was, wenn jemand eines gegen mich zieht?«
»Schleudert ihm ein Messer ins Genick und rennt«, sagte Jedron nur.
»Das scheint mir kaum im Sinne der Ehrenhaftigkeit«, sagte Silberdun.
»Die Ehrenhaftigkeit ist nur ein Mühlstein um Euren Hals, Junge. Je früher Ihr Euch damit abfindet, umso besser.«
»Aber ...«, begann Silberdun, seine Worte wohl abwägend. Hatte er eben richtig gehört? Genauso gut hätte ihm Jedron sagen können, er möge sich darauf einstellen, künftig nach Hundewelpen zu treten oder Milchmädchen die Kehle aufzuschlitzen. »Wenn es doch unser Ziel ist, die Welt der Seelie zu retten, wie können wir das erreichen, wenn wir all jene Dinge gering achten, welche die Seelie ausmachen?«
»Hebt Euch Eure teure Ehrenhaftigkeit für diejenigen auf, die auf der Insel der Glückseligen leben. Wir erhalten ihnen den Luxus persönlicher Ehrenhaftigkeit, indem wir auf ebenjene Ehrenhaftigkeit verzichten.«
»Das verstehe ich nicht.«
Jedron zeigte übers Meer nach Osten, wo Smaragdstadt lag. »All die hübschen Fae, all die zivilisierten Fae dort drüben leben in einem riesigen Kokon, gesponnen aus Ignoranz und Ahnungslosigkeit.«
Das war das Poetischste, das Jedron bisher über die Lippen gekommen war, und das sagte ihm Silberdun auch.
»Fahrt zur Hölle, Silberdun. Ich meine es ernst. Es ist schon eine feine Sache,
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