Schattenspäher
einen Moment lang schweigend an. Selbst mit dem Verfluchten Objekt konnte sie spüren, dass eine Welle von Traurigkeit ihn erfasste. »Ja, du bist eine Fae. Aber das ist nicht alles, was du bist.« Er setzte sich neben sie.
Dann nahm er ihr Gesicht in seine Hände. Es war nichts Zärtliches an dieser Geste. »Diese Untersuchung ist irgendwie nicht so gelaufen wie geplant. Der gute Doktor ist nämlich gekommen, um eine schwere Last von deinen Schultern zu nehmen, um dir ein Geschenk zu machen. Doch du musst versprechen, verantwortungsvoll damit umzugehen.«
Selas Augen weiteten sich. Ein Geschenk? Sie hatte in ihrem Leben so gut wie nie Geschenke bekommen.
»Lassen wir den Doktor wieder hereinkommen und seine Arbeit tun? Einverstanden?«
Sela nickte, und Everess bat den Arzt zurück ins Zimmer. Der schaute ihr mit einem Vergrößerungsglas in die Augen, blies ihr eine Art Puder ins Ohr, stach ihr schließlich in den Finger und fing den Blutstropfen in einer Phiole auf. Dann holte er ein kleines Kästchen hervor und schob die Phiole hinein. Das Kästchen ratterte eine Weile vor sich hin und produzierte dann eine Reihe melodischer Töne, die den Arzt offenbar zufriedenstellten.
»Sie ist in allerbestem Zustand«, sagte er zu Everess. »Jedenfalls körperlich.«
»Dann sollten wir es tun«, meinte Everess.
Wieder griff der Doktor in seine Tasche und holte etwas daraus hervor, das in Musselin eingeschlagen war. Langsam klappte er den Stoff auseinander und zeigte Sela dessen Inhalt. »Na, was sagst du dazu?« Es war das erste Mal, dass er sie direkt ansprach.
Sela schaute hin. In der Hand des Arztes lag ein weiteres Verfluchtes Objekt. Am liebsten hätte sie geweint. Doch dieser Reif hier war viel schmaler, und seinen Silberüberzug zierte ein filigranes Muster, ganz im Gegensatz zu dem schmucklosen schweren Ring, den sie noch trug.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Weder der Doktor noch ich sind der Meinung, dass man das Ding derzeit schon ganz entfernen kann«, sagte Everess und deutete auf ihren Armreif. »Wir wissen einfach nicht, wie mächtig deine Gabe ohne es wirklich ist, und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es herausfinden möchte.«
Er machte eine kleine Pause, nahm dem Arzt den neuen Reif ab und wirkte plötzlich ungemein ernst. »Dieses Geschenk hier bedeutet Macht, Mädchen. Macht und Freiheit, von der ich glaube, dass du mit ihr umzugehen imstande bist.« Er hielt ihr das neue Verfluchte Objekt vors Gesicht, packte dann fest ihren Arm. »Solltest du diese Freiheit allerdings auch nur für einen Moment missbrauchen«, sagte er, »werde ich dich niederstrecken wie einen wild gewordenen Goblin.«
Sela wusste, Drohungen waren etwas Verletzendes, und sie hatte erlebt, wie andere unter Drohungen eingeschüchtert worden waren. Und sie nahm an, dass ihr dieser Teil aus dem Herzen herausgerissen worden war. Es waren Momente wie dieser, wo sie sich fürchtete und so etwas wie eine Ahnung davon bekam, dass sie eben nicht wie alle anderen war. Natürlich wusste sie, dass sie anders war, aber das machte es nicht besser.
Als Nächstes überlegte sie, auf welche Arten sie Everess an Ort und Stelle töten könnte. Nicht dass sie dies vorgehabt hätte. Eigentlich mochte sie den Mann; er würde sie lehren, sich nützlich zu machen. Doch der Gedanke, ihn umzubringen, hob ihre Laune.
»Wir sollten sie dazu hinlegen«, sagte der Doktor und deutete auf das Bett. »Es könnte sein, dass sie um sich schlägt.«
»Sollte man sie nicht irgendwie betäuben?«, fragte Everess.
Der Doktor zuckte nur die Achseln. Er entfernte den Stopfen aus einer kleinen Flasche, roch daran und schien zufrieden. »Leg dich hin«, sagte er zu Sela.
Sela tat es. Freiheit? Macht?
Der Doktor hielt den neuen Reif in beiden Händen, dreht ihn im Lichtschein hin und her. »Was für eine schöne Handwerksarbeit.« Er reichte Everess die kleine Flasche. »Auf mein Kommando schiebt Ihr den neuen Reif über den alten.«
»Was ist das?«, fragte Everess mit Blick auf die Flasche; dann roch er ebenfalls daran.
»Damit wird das Eisen aufgelöst; der alte Reif wird dann einfach abfallen.«
Das Verfluchte Objekt? Einfach abfallen? Das konnte nicht richtig sein. Das Verfluchte Objekt sollte doch niemals entfernt werden. Nie, nie, nie!
»Nein!« Sela setzte sich ruckartig auf dem Bett auf, entwand sich Everess' Griff. Everess schwankte, der Inhalt der Flasche schwappte auf Selas Schulter. Die Flüssigkeit rann ihren Arm herab, während sie vor
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