Schattenspäher
Er bewegt sich langsam und hat eine hohe Stimme. Oca ist der Einzige, dem es erlaubt ist, mit Sela allein zu sein, und das macht ihn zu etwas ganz Besonderem. Er bringt ihr die Mahlzeiten, wacht bei Tisch über sie und tadelt sie, wenn sie den Teller nicht leert. Er ist nett zu ihr, aber nur, wenn die Vetteln nicht in der Nähe sind. Wenn sie mitkriegen, dass Oca nett zu Sela ist, wird er bestraft. Oca sagt, es ist Schande, was man ihr antut, aber Sela weiß nicht, was er damit meint.
Lord Tanen kommt nicht oft, doch wenn er sich ankündigt, dann herrscht plötzlich Betriebsamkeit im Herrenhaus. Die Hausmädchen legen sich besonders ins Zeug; ein Koch von außerhalb tut Dienst in der Küche. Lord Tanen gehört alles. Das Haus, das Land, selbst das Dorf am Ende der Straße, das so ähnlich aussieht wie das Dorf, aus dem Sela kommt. Wie gern würde sie dem kleinen Ort einen Besuch abstatten, doch das ist ihr nicht erlaubt. Sela begreift, dass Lord Tanen auch sie besitzt, doch wenn sie dies Oca gegenüber erwähnt, wird Oca traurig. Sela möchte nicht, dass Oca traurig wird.
Alle haben Angst vor Lord Tanen, und die Vetteln kneifen Sela und schärfen ihr ein, sich von ihrer besten Seite zu zeigen, wenn er zu Besuch kommt.
Heute kommt Lord Tanen. Oca hat es ihr erzählt. Die Vetteln nehmen ihn in Empfang, und der Diener bringt ihm etwas zu trinken. Im großen Speisezimmer, das ansonsten immer abgeschlossen ist, wurde ein Festmahl aufgetischt. Die Dienerschaft war den ganzen Tag mit seiner Vorbereitung beschäftigt, doch Sela hat nie gehört, dass Lord Tanen ihnen jemals für die Mühe gedankt hätte. Oca hat sie gelehrt, dass es immer höflich ist, »Danke schön« zu sagen, wenn jemand etwas für einen tut. Aber Lord Tanen ist der Besitzer, und der Besitzer muss niemandem danken, wenn er es nicht will.
Nachdem Lord Tanen sein Abendessen eingenommen hat, verlangt er Sela zu sehen. Oca und die Vetteln haben Sela in ein steifes weißes Kleid gesteckt und ihr Blumen ins Haar geflochten. Sela gefällt diese Aufmerksamkeit wie auch das Kleid und die Blumen, doch es gefällt ihr nicht, wie man sie Lord Tanen vorführt. Sie muss einen Knicks vor ihm machen und dann stocksteif dastehen. Sie darf nicht sprechen, sich nicht rühren, bis sie wieder entlassen ist. Bei diesen Audienzen pflegt Lord Tanen sie eine Weile schweigend anzustarren und zu nicken. Dann bedeutet er ihr näher zu kommen, greift ihr unters Kinn und sieht ihr tief in die Augen. Seine Hand fühlt sich an wie Papier. Er ist weder freundlich noch unfreundlich. Wie die Vetteln wartet auch er darauf, dass sich ihre Gabe zeigt. Und bis dahin bleibt nichts weiter zu tun als zu warten.
Am nächsten Morgen erwachte Sela in ihrem neuen Zimmer und hoffte, dass Everess sie abholte und irgendwohin mitnahm. Irgendwohin, wo sie nicht nur Tee trinken und herumsitzen, sondern etwas tun würde. Allmählich hatte sie das Gefühl, als wäre sie immer noch in Haus Katzengold. Als hätte sich rein gar nichts geändert.
Es klopfte leise an ihre Tür, und das Zimmermädchen trat ein. Es trug eine Waschschüssel und ein Gewand über dem Arm.
»Guten Morgen, Fräulein Sela«, sagte die Bedienstete. Sie sprach mit einem Sela völlig unbekannten Akzent. Sela sah ihr in die Augen. Augen, die im Morgenlicht schimmerten, das durch die transparenten Vorhänge ins Zimmer fiel. Das Zimmermädchen war nicht besonders hübsch, und etwas Trauriges, Gebrochenes umgab es. Kein fremder Anblick für Sela - in Haus Katzengold war sie vielen traurigen, gebrochenen Gestalten begegnet -, doch sie hatte angenommen, dass die Leute in Freiheit alle so waren wie Everess: selbstsicher, geradeheraus, unerschütterlich.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte das Zimmermädchen. Es hieß Ecara, wie Sela erstaunt feststellte. Sie berührte das neue Objekt an ihrem Arm. Es fühlte sich kühl an. Und gar nicht mehr verflucht.
»Nein, Ecara«, sagte Sela lächelnd. Es war ein gewinnendes, vertrauenerweckendes Lächeln, das wusste sie. Ecara fühlte sich die meiste Zeit über wie unsichtbar. Sela konnte keinerlei Fäden ausmachen, die von dem Mädchen ausgingen. Es war traurig; Ecara war genau wie Sela.
Als Sela sah, dass das Mädchen sie irritiert anblickte, setzte sie hinzu: »Ich hab mich gestern Abend bei Lord Everess nach den Namen der Zimmermädchen erkundigt. Ich weiß immer gern, mit wem ich es zu tun habe.«
Ecara machte einen Knicks, offenbar wusste sie nichts darauf zu erwidern. »Wir müssen nicht
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