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Schattenspieler (German Edition)

Schattenspieler (German Edition)

Titel: Schattenspieler (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dr. Michael Römling
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Wut kochte. Das war nicht geschauspielert.
Und warum auch?
    Leo stand auf und wanderte im Raum auf und ab. Draußen
war es inzwischen völlig dunkel. Seine Gedanken drehten sich
im Kreis. Vielleicht war Wilhelm so eine Art Agent gewesen,
der geheime Informationen sammelte. Aber für wen? Und
woher hatte er die Kontakte, über die er an solche Akten kam?
    Je länger Leo über Wilhelm nachdachte, desto mysteriöser
erschien ihm sein Freund. Wilhelm war Kunsthistoriker und
schrieb schlaues Zeug für alle möglichen Zeitschriften. Aber in
letzter Zeit hatte es kaum noch Aufträge gegeben, weil das Papier
rationiert und eine Zeitung nach der anderen eingestellt
wurde. Doch das schien Wilhelm keine Sorgen zu bereiten. Es
fehlte ihm an nichts, ohne dass er jemals ein Wort darüber verloren
hätte, wie er überhaupt an Geld kam. Tagsüber war er oft
unterwegs und traf sich mit irgendwelchen Leuten, von denen
er so gut wie nichts erzählte. Wenn er wiederkam, hatte er
oft Köstlichkeiten dabei, die man eigentlich nirgendwo mehr
bekam. Dann zauberte er in seiner Küche herrliche Menüs
und setzte sie Leo vor, garniert mit allen möglichen Geschichten,
die mit Essen zu tun hatten, als wollte er Leos Sinne und
Gedanken wenigstens am Tisch von dem Kummer ablenken,
der sein ganzes Dasein beherrschte wie eine finstere Kulisse das
Bühnenbild in einem Theaterstück. Und manchmal klappte
es sogar, und Leo vergaß für kurze Zeit alles, was außerhalb
dieser Wohnung war. Wilhelm redete viel und gern. Nur eben
nicht über sich selbst.
    Leo knipste das Licht aus und trat in den dunklen Flur.
Eine unendliche Einsamkeit überkam ihn. Würde Wilhelm
zurückkommen?
    Aus dem Wohnzimmer wehte ein kühler Abendhauch, der
durch das Loch seinen Weg in die Wohnung gefunden hatte.
In der Ferne grummelte es vernehmlich. Ein Gewitter, dachte
Leo. Um diese Jahreszeit, merkwürdig. Und dann wurde ihm
plötzlich klar, dass das kein Gewitter war. Das waren die Russen,
deren Artillerie schon seit Tagen immer wieder zu hören
gewesen war, wenn auch noch nie so laut. Vielleicht dauerte
es nur noch ein paar Tage, bis der Spuk hier vorbei war.
    Leo wusste nicht, wie lange er so im Flur gestanden und dem
Grollen gelauscht hatte. Er wusste noch nicht einmal mehr,
was er denken sollte; in seinem Kopf ging alles durcheinander.
Vor einer Stunde hatte er mitten im Bombenregen gestanden
und geschrien. Dann war Wilhelm plötzlich verschwunden.
Die Papiere auf dem Schreibtisch. Und jetzt kamen auch noch
die Russen. Es war zu viel für ihn. Auf einmal war Leo so müde
wie noch nie in seinem Leben. Er merkte noch nicht einmal
mehr, was stärker an seinen Gliedern zerrte – diese Müdigkeit
oder die Schmerzen vom Sturz auf dem Dachboden. Es
fühlte sich an, als hätte jemand seinen Kopf mit flüssigem Blei
ausgegossen. Leo schleppte sich in sein Zimmer. Seine Hand
tastete nach dem Lichtschalter, doch er ließ sie wieder sinken.
Er wollte nichts mehr sehen. Mit letzter Kraft streifte er die
Schuhe ab, ohne sich zu bücken, schlüpfte mit allen Sachen
ins Bett und schlief ein wie betäubt.
    Als er aufwachte, war es draußen längst hell. Durch die Ritzen
in den Fensterläden drängten sich schmale Streifen von
Sonnenlicht und er nahm das dumpfe Grollen der Artillerie
wahr. Leo stand auf und ging ins Bad. Aus dem Hahn über
dem Waschbecken kamen ein paar Tropfen, dann nichts mehr.
Wahrscheinlich war bei dem Angriff gestern die Wasserleitung
getroffen worden. Eine Weile betrachtete Leo sich im Spiegel:
ein ganz normaler Junge, fünfzehn Jahre alt, fast erwachsen,
dunkelblonde Haare, etwas schief der Seitenscheitel. Schmales
Gesicht, gerade Nase. Da habt ihr eure nordische Rasse, dachte
er, halb belustigt, halb angewidert. Je länger er sich betrachtete,
desto fremder kam er sich vor. Und als er sich probeweise
zu einem Lächeln zwang, da erkannte er sich gar nicht mehr
wieder.
    Später hätte er kaum sagen können, wie er den Tag verbracht
hatte. Zuerst streifte er ruhelos durch die Wohnung, ohne dem
Loch in der Wohnzimmerwand zu nahe zu kommen. Dann
ging er ins Arbeitszimmer, griff sich wahllos ein paar Bücher
heraus, begann zu lesen, schweifte ab, blickte immer wieder zu
dem Aktenstapel, der sich auf dem Schreibtisch türmte, so als
würde jeden Moment ein Windstoß die Mappen öffnen und
einen heulenden Schwarm von Gespenstern durch den Raum
jagen. Papiere voller Leichen. Das Kontenbuch des großen
Zahlmeisters der Hölle. Die Standuhr tickte.
    Zwischendurch jaulten

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