Schattenspieler (German Edition)
grau
uniformierte Männer gebildet, die mit dem Rücken zur
Mauer standen. Leo ging langsam auf die wogende Menge zu,
während Sirinow am Rand des Tumults mit einem Leutnant
sprach. Als sich eine Lücke zwischen den Männern auftat, sah
Leo, dass die beiden Gefangenen auf ihren Mänteln schwarze
Kragenspiegel mit SS-Runen trugen. Er bekam eine Gänsehaut,
und er wusste nicht, ob es noch immer die instinktive
Angst vor diesem furchtbaren Symbol war oder die Furcht vor
dem, was jetzt passieren würde.
Einer der beiden sah noch sehr jung aus. Er zitterte zum
Gotterbarmen und blickte immer wieder Hilfe suchend zu
dem anderen herüber, der keine Miene verzog und trotz der Situation
eine demonstrative Überheblichkeit zur Schau stellte.
Damit reizte er die Russen offenbar bis aufs Blut. Einer
der beiden Anatols baute sich mit gezogener Pistole vor ihm
auf, schlug ihm mit dem Handrücken ins Gesicht und brüllte
immer wieder: »Sastrelju!«
»Joschek!«, schrie plötzlich eine Stimme aus der Menge. Es
war Wassilij, der sich durch die durcheinanderschreienden
Soldaten zu Leo durchkämpfte. Ein paar der Männer blickten
ihm hinterher. Wassilij hatte ebenfalls seine Pistole gezogen
und drückte sie nun dem völlig entgeisterten Leo in die Hand.
Plötzlich wurde es still in der Runde. Im Schritt des jüngeren
der beiden SS-Männer breitete sich ein dunkler Fleck aus.
Zwischen Leo und den Gefangenen öffnete sich eine Gasse
aus ockerbraunen und olivgrünen Uniformen. Die Pistole war
schwer und kalt und hing an Leos Arm wie ein Bleigewicht. Er
wollte sie fallen lassen, aber sie schien angewachsen zu sein. Er
wollte weglaufen, aber seine Füße gehorchten nicht. Wassilij
ergriff seine Hand und hob sie sanft an, bis die Mündung auf
den älteren der beiden Gefangenen zeigte. »Ubey yego«, sagte
er fast zärtlich.
In Leos Ohren rauschte es. Er wollte die Pistole jetzt wirklich
loslassen, aber Wassilij hielt seine Hand umklammert. »Ubey
yego!«, rief er jetzt lauter und blickte in die Runde. Er schien
das alles für einen glänzenden Einfall zu halten, eine Idee, von
deren Genialität man jetzt nur noch Leo überzeugen musste.
Die Männer begannen wieder durcheinanderzureden, einige
waren offenbar mit Wassilij einer Meinung, sie grinsten und
feuerten Leo an, andere wirkten skeptisch und riefen etwas
dazwischen, das sich nach Beschwichtigung anhörte.
Vor Leos Augen drehte sich alles. Er blickte über den Lauf
der Pistole direkt in das Gesicht des älteren SS-Mannes, der
ihn spöttisch und provozierend ansah. Die Runen auf seinem
Kragenspiegel glänzten matt, und Leo begriff, dass dieser
Mann alles, was er in den letzten Jahren verbrochen haben
mochte, mit genau dieser Haltung getan hatte, so gleichgültig
und gefühllos und arrogant, wie er nun in die Mündung
der Pistole blickte. Und dennoch brachte Leo in diesem Augenblick
keinen Hass auf, kein Gefühl von Genugtuung oder
Rache wollte sich einstellen.
Auf einmal krachte ein Schuss und sofort danach noch
einer. Die beiden Gefangenen kippten ohne einen Laut zur
Seite und hinterließen eine schmierige Blutspur an der Wand
der Scheune. Einen schrecklichen Moment lang glaubte Leo,
er selbst hätte geschossen. Wassilij ließ seine Hand los. Die
Pistole fiel zu Boden. Das Echo der beiden Schüsse hallte von
den Mauern des Gehöfts wider und verstummte.
Ein paar Schritte von Leo entfernt traten die Männer auseinander.
Der abgemagerte Fjodor, den alle Koschka nannten,
verließ wortlos den Kreis und steckte im Gehen seine Pistole
ins Halfter.
Leo stand vor Entsetzen immer noch wie festgewachsen
da. Seine Knie zitterten. Die Soldaten zerstreuten sich; einer
schlug Leo freundlich auf die Schulter und wollte ihn mitziehen,
aber Leo schüttelte seine Hand ab. Die beiden Toten
lagen unnatürlich verdreht auf dem Boden und starrten ins
Leere. Der Blick des Älteren hatte immer noch etwas Überhebliches.
Sirinow trat neben ihn und steckte sich eine Zigarette an.
»Du meinst wahrscheinlich, ich hätte das verhindern müssen«, sagte der Oberst sachlich.
Er machte ein paar Züge, bis die Glut sein Gesicht mit
einem schwachen warmen Schein überzog.
»Warum hat er das getan?«, fragte Leo leise.
»Fjodor war zwei Jahre als Kriegsgefangener in Deutschland«, antwortete Sirinow. »Hat in einer Flugzeugfabrik in
Bremen Propeller angeschraubt. Dabei hat er wohl die eine
oder andere Schraube nicht so ganz richtig fest gezogen.«
Sirinow nahm einen Zug und blickte gleichgültig auf
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