Schattenspieler (German Edition)
die
beiden Toten. Dann nahm er den Faden wieder auf.
»Sie haben ihn in eine Strafkompanie zum Minenräumen
hinter der Front geschickt und ihm gesagt, dass sie seine Frau
und seine Tochter erschießen, wenn er wieder Mist macht.
Weiß der Teufel, woher sie von den beiden wussten. Wahrscheinlich
hat irgendein Spitzel in der Flugzeugfabrik ein Gespräch
belauscht oder so.«
»Und dann?«
»Er ist nach vier Wochen geflohen und hat sich nach Hause
durchgeschlagen. Sein Dorf gab es nicht mehr. Ein Dreivierteljahr
zuvor war die SS durchgezogen, hatte alle Leute in die
Kirche gejagt und das Gebäude angesteckt. Seine Frau und
seine Tochter sind mit den anderen verbrannt. Das nannte man
Partisanenbekämpfung. Seine Tochter war fünf Jahre
alt.«
»Mein Gott«, murmelte Leo.
»Meiner nicht«, sagte Sirinow.
Die Erschießung der beiden Gefangenen schien die Männer
nicht weiter zu beschäftigen. Nachdem man die Leichen weggebracht
hatte, saßen alle wie an den Abenden zuvor auf dem
Hof, schwatzten, tranken, rauchten und sangen Lieder, die
später immer lauter und schiefer klangen. Fjodor ließ sich
nirgendwo blicken, aber seine Geschichte ging Leo nicht aus
dem Kopf.
Er lag auf dem Bett in seiner Kammer, während der Widerschein
des Feuers auf dem Hof an der Decke tanzte. Leo
dachte an die brennende Kirche und fragte sich, ob er an Fjodors
Stelle genauso gehandelt hätte. Aber wieso überhaupt an
Fjodors Stelle? Hatten sie nicht fast die gleiche Geschichte?
Sowohl Fjodor als auch Leo hatten sie die beiden Menschen
weggenommen, die sie am meisten liebten. Fjodor war zwei
Jahre lang zur Arbeit gezwungen worden, zuletzt unter lebensgefährlichen
Bedingungen. Leo war untergetaucht und
hatte zwei Jahre in verschiedenen Verstecken um sein Leben
gefürchtet. Fjodor hatte geschossen. Leo nicht. Warum nicht?
Als Leo am nächsten Morgen erwachte, röhrten auf dem
Hof die Motoren. Bald darauf steckte Wassilij seinen Kopf
zur Tür herein.
»Fahren wir Berlin!«, sagte er und strahlte über das ganze
Gesicht.
Und sie fuhren. Eine Stunde später saß Leo in einem der
Jeeps hinter Oberst Sirinow, der mit Tarassow am Steuer in
der Mitte der endlosen Kolonne aus Panzern und Lastwagen
langsam dahinrollte. Zunächst ging es drei Stunden lang über
Land. Immer wieder musste der Zug anhalten, weil zusammengeschossene
Fahrzeuge den Weg versperrten. Auf einem
Feld sah Leo eine endlose Kette von Geschützen, die in einem
dumpfen Stakkato in Richtung Osten feuerten, wo der Himmel
zu einer grauen Rauchwolke zerfloss. Dahinter wimmelte
es von Soldaten, die Kisten schleppten, sich Granaten zuwarfen,
nachluden und sich bei jedem Feuerstoß die Ohren zuhielten,
während die Kanonen einen Satz nach hinten machten.
In Spandau kamen die ersten brennenden Häuser in Sicht.
Asche wehte durch die Straßen und aus den Fenstern der noch
bewohnten Häuser hingen weiße Bettlaken. Pausenloses Rattern
und Grollen war aus der Ferne zu hören. Vom Dach eines
großen unversehrten Gebäudes wehte eine rote Fahne.
Dann begegneten sie den ersten Gefangenen: abgekämpfte
Gestalten, die in langen Reihen auf den Bürgersteigen Aufstellung
nahmen, die Hände hinter dem Nacken verschränkt,
bewacht von sowjetischen Soldaten, die aussahen, als warteten
sie nur darauf, dass einer eine falsche Bewegung machte. Köpfe
sausten vorbei, blutige Verbände, die wie bunte Farbtupfer vor
dem schmutzigen Grau der Soldatenmäntel wirkten. Ab und
zu fing Leo einen Blick aus einem stoppelbärtigen Gesicht
auf. Die meisten schauten einfach zu Boden.
Je näher sie Charlottenburg kamen, desto deutlicher schälten
sich Maschinengewehre und einzelne Geschosseinschläge
aus der dumpfen Geräuschkulisse heraus. Oberst Sirinow
sprach fast die ganze Zeit über in sein Funkgerät.
Immer häufiger mussten sie jetzt anhalten. Leo versuchte,
sich zu orientieren, aber die zerstörten Häuser boten keinen
Anhaltspunkt. Er erkannte seine eigene Stadt nicht mehr wieder.
Die Fassaden der Häuser, die noch standen, waren mit großen
und kleinen Einschlägen übersät. Die Löcher leuchteten
weiß in dem rußgeschwärzten Stein. An einer Straßenlaterne
hing ein älterer Mann, den Kopf auf der Brust, die Hände
auf dem Rücken zusammengebunden. Er sah zerbrechlich aus
und die Schlinge schnitt tief in seine Kehle ein. Auf seinem
Bauch baumelte ein Schild mit der ungeschickt hingepinselten
Botschaft: »Ich war zu feige, meine Familie zu verteidigen.«
Schließlich erreichten sie ein mehr oder
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