Schattenspieler (German Edition)
weniger unversehrtes
Villenviertel. Leo erkannte das Westend wieder. Fast
konnte man den Eindruck haben, in einer völlig anderen Stadt
zu sein: Die Straßen wurden von Bäumen gesäumt, die gerade
austrieben. Hinter hohen Hecken und Zäunen lagen friedlich
die Häuser, deren Bewohner jetzt wahrscheinlich in den Kellern
saßen. Auch hier hingen weiße Laken aus den Fenstern.
Außer den Russen war niemand auf der Straße zu sehen.
Die Kolonne hielt wieder an. Diesmal stieg Sirinow aus und
blickte die Straße hinab. Weiter vorn schoben sich zwei Panzer
langsam voran, dahinter schlichen halb gebückt vielleicht
vierzig Soldaten, die Gewehre im Anschlag, und zielten auf
alle Fenster und Balkone. Ab und zu loderte die Fackel eines
Flammenwerfers zwischen den Soldaten auf. Immer wieder
scherten kleine Gruppen zu den Seiten aus, traten Gartentore
und Haustüren ein und verschwanden im Inneren der Villen,
während von draußen andere die Fenster im Visier behielten.
Von drinnen drang Geschrei heraus, aber geschossen wurde
nicht. Während nur ein paar Hundert Meter weiter ununterbrochen
die Einschläge krachten, schienen die Deutschen
dieses Viertel kampflos aufgegeben zu haben.
Sirinow gab seinem Fahrer einen Wink, den Jeep am Straßenrand
zu parken. Zwei Panzer schoben sich mit ohrenbetäubendem
Rasseln und Röhren vorbei, eine Abgaswolke wallte
in die Luft und der Boden bebte.
Oberst Sirinow musterte die Häuser rechts und links der
Straße, aus denen unter bestätigenden Rufen Soldaten kamen.
Er blickte zu Leo und grinste. Im Hintergrund ratterte ein
Maschinengewehr und hörte nicht mehr auf, dann rasten zwei
Flugzeuge über sie hinweg.
»Such dir eins aus!«, rief Sirinow und grinste noch breiter.
Leo blickte ihn fragend an.
»Wo willst du wohnen?«, fragte Sirinow.
Leo verstand immer noch nicht. Statt einer weiteren Erklärung
stieß der Oberst das Tor zum Vorgarten einer der Villen
auf und ging über die Freitreppe auf die Haustür zu. Leo folgte
ihm etwas ratlos.
Im Türrahmen stand ein Gefreiter mit umgehängter Maschinenpistole
und salutierte. Sirinow legte die Hand an die
Mütze und sie traten ein.
Nach allem, was Leo auf seiner nächtlichen Flucht und
auf dem heutigen Weg durch die Stadt gesehen hatte, konnte
man sagen: Über dieses Haus hatte ein schützender Gott seine
Hand gehalten. In der Eingangshalle stand auf der einen Seite
ein Vitrinenschrank mit Büchern, auf der anderen neben
einer verspiegelten Garderobe ein lang gestrecktes Bord mit
Zeitschriften, weiteren Büchern und einem Telefon. Der geflieste
Boden war großzügig mit mehreren Teppichen ausgelegt.
Gegenüber dem Hauseingang schwang sich eine Treppe
nach oben. Rechts und links führten weitere Türen in angrenzende
Räume. Leo sah eine Frau und einen jungen Mann, die
auf einen Unteroffizier einredeten, der ein Notizbuch in der
Hand hielt und etwas aufschrieb. Und dann traute er seinen
Ohren kaum: Von oben kam sanfte Klaviermusik, eine Melodie,
die er kannte. Sein Vater hatte sie öfter gespielt, aber Leo
kam nicht auf Anhieb darauf, wer sie komponiert hatte. Bilder
flogen vor seinem inneren Auge vorbei, sein Vater am Klavier,
eine Hand um den Nacken des auf seinem Schoß sitzenden
Leo gelegt, während die andere lässig eine scheinbar improvisierte
Melodie spielte. Er fand die Tasten, ohne hinzusehen.
Oberst Sirinow warf ihm einen Seitenblick zu und lächelte.
»Beethoven«, sagte er. »Das lässt hoffen.«
Er stieg die Treppe hinauf und Leo folgte ihm. Der Oberst
schien von der Musik angelockt zu werden wie von einem
Duft. Er ging leise, als käme er zu spät zu einem Konzert und
wollte den Pianisten und die anderen Besucher nicht stören.
Was für ein merkwürdiger Mensch, dachte Leo. Am Donnerstag
Gefangenenerschießung, am Freitag Konzert.
Die Musik schlich in getragenen Akkorden durch die obere
Etage. Sie folgten den Klängen in einen Raum, in dem außer
dem Klavier und einer Sesselgarnitur keine Möbel standen.
An der Wand hingen Familienporträts, ein großes Gemälde
mit einem streng dreinblickenden Herrn im Gehrock und die
üblichen Fotos mit Kindern in Matrosenanzügen und Müttern,
die aussahen wie Großmütter.
Das Klavier stand an der Wand gegenüber der Tür. Auf
dem Schemel saß ein Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt, mit
einem blonden Zopf, der ihr in den Nacken fiel. Sie trug ein
helles Kleid und sah von hinten aus, als ob sie hübsch wäre.
Ihre Hände streichelten die Tasten. Helle und dunkle Töne
brandeten
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