Schattenspieler (German Edition)
keinem Zusammenhang miteinander und waren einfach
nach Datum sortiert.
Leo und Friedrich begannen zu lesen. Es waren vor allem
Meldungen über Kunstwerke und Möbel, die in ganz Europa
zusammengerafft und in irgendwelche Depots verfrachtet worden
waren. Einige waren von Sommerbier selbst unterschrieben.
Doch auch andere Namen, die sie schon bei Mackensen
gehört hatten, tauchten auf, wie Künsberg und Utikal. Alles in
allem ergab sich ein mosaikartiges Bild von Sommerbiers Werdegang
als einer der Hauptbeteiligten an der Ausplünderung
der besetzten Gebiete. Leider stammten die meisten Dokumente
aus den Vorjahren. Sie enthielten zwar viele neue Details,
aber nichts, was auf Sommerbiers Verbleib hindeutete.
Leo schlug enttäuscht die letzte Seite auf und blickte aus
dem Fenster. Über den Himmel zog brummend ein Flugzeug.
Friedrich, der die ganze Zeit eifrig mitgelesen hatte, pfiff
plötzlich durch die Zähne. Leo fuhr zusammen und schaute
wieder auf das Blatt. Ein Fernschreiben mit Sommerbiers
Unterschrift. Und dann stutzte er. Die Ränder des faserigen
Papiers waren mit Kürzeln und Stempeln übersät. »Streng
vertraulich«, verkündete ein Vermerk. Leos Blick fiel auf die
Betreffzeile: »Aufstellung der im Auftrag von Gauleiter Koch
im Ernstfall aus Königsberg zu evakuierenden Objekte mit
Ersuchen zur Bereitstellung von Transportmitteln.«
»Da haben wir's«, murmelte Friedrich.
Wilhelm war aufgestanden und schaute ihnen über die
Schulter. Auch er schien überrascht.
»Das muss neu in die Akte gekommen sein«, sagte er verwundert.
»Wie ist das möglich?«, fragte Leo, während er las.
»Nichts Besonderes eigentlich«, sagte Wilhelm. »Die Dossiers
werden hier laufend aktualisiert; wir haben einen ganzen
Stab, der nichts anderes macht. Die Militärs schicken uns
ständig neue Sachen, die sie irgendwo finden. Das ist erst die
Spitze des Eisbergs.«
Er grinste. »Eigentlich sollten alle Dokumente verbrannt
werden. Aber die Nazis hatten nicht genügend Benzin zum
Anzünden.«
Leo las weiter. Wie durch den Betreff angekündigt, folgte
eine Liste, die zum großen Teil aus Kürzeln bestand. Akten der
Gauleitung stand da geschrieben. Archiv Dienststellen RK Ukraine
und Ostland , HSSPF , Sipo , SD , BZ . Und dann sah Leo
es: Sammlung W . Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen.
Friedrich hatte es ebenfalls entdeckt. Er sprang auf und deutete
auf den letzten Posten der Aufstellung. »Da haben wir's!«,
rief er aufgeregt. »Sammlung W. W wie Wolowski! Das ist
der Beweis! Sommerbier hat die Wolowski-Sammlung aus Königsberg
geschafft! Wir lagen richtig!«
Wilhelm runzelte die Stirn und starrte auf das Dokument.
»Jedenfalls hatte er es vor.«
»Er hatte es nicht nur vor!«, rief Friedrich fast empört. »Er hat es getan! Sammlung W, achtundzwanzig Gemälde in achtundzwanzig
Kisten auf einem Lastwagen! Das ist doch sonnenklar!«
Wilhelm nickte bedächtig. »Es spricht alles dafür«, sagte er.
Friedrich war zum Fenster gegangen, hatte sich mit dem
Rücken dagegengelehnt und blickte sie mit kaum gezügelter
Unternehmungslust an. »Jetzt müssen wir nur noch Sommerbier
finden«, sagte er.
»Nur noch ist gut«, versuchte Leo ihn zu bremsen. Doch
innerlich war er genauso aufgeregt wie sein Freund. Er blickte
wieder auf Sommerbiers Namen unter dem Fernschreiben.
Seine Hände zitterten.
»Gut«, sagte Wilhelm sachlich. »Wir machen das jetzt wie
besprochen. Ich bringe euch zu Sommerbiers Bruder. Ihr steigt
zwei Straßen weiter aus und hört euch in der Nachbarschaft
um. Dann klingelt ihr und Friedrich spielt ihm das gleiche
Theater vor wie Mackensen.«
Wenige Minuten später saßen sie schon wieder in einem
Jeep, Wilhelm am Steuer. Sie jagten unter einer Eisenbahnbrücke
durch. An einer Kreuzung, auf der ein britischer Militärpolizist
den Verkehr regelte, mussten sie kurz anhalten.
Dahinter begann, nach einer schönen, breit angelegten Promenade,
die Innenstadt.
»Wer weiß, ob das Haus überhaupt noch steht«, sagte Leo.
»Es steht noch«, sagte Wilhelm, der auf einen Wink des
Postens wieder Gas gab. »Und er wohnt dort noch. Ich habe
mich schon umgesehen, in Zivil natürlich. Aber ich wollte
nicht klingeln. Ein Junge auf der Suche nach seinem Vater ist
unverfänglicher. Außerdem stimmt es ja sogar, dass dein Vater
Sommerbier kannte.«
Sie bogen hinter der Promenade rechts ab. Wilhelm hielt
an und zeigte die Straße hinunter, die einen sanften Bogen
beschrieb.
»Gegenüber der Einmündung zur zweiten
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