Schattenspieler (German Edition)
er sehr
langsam, wie zu einem Kind, das sich eine schwierige Spielregel
genau einprägen soll: »Viele Dinge dauern ein bisschen
länger. Es dauert zum Beispiel auch ein bisschen länger, bis
ein Leutnant es zum Hauptmann bringt. Er muss ja erst mal
Oberleutnant werden.«
Er lehnte sich zurück und blickte Tarassow geradewegs in
die Augen. »Aber manchmal, ganz selten, da kommt es vor,
dass ein Leutnant den Oberleutnant überspringt und direkt
zum Hauptmann befördert wird. Manchmal gehen die Dinge
dann doch überraschend schnell.«
Leutnant Tarassow hatte verstanden. Er packte die Fotos
und den Plan wieder in seine Tasche, grüßte und verschwand.
Aus den Augenwinkeln sah Sirinow, dass er lächelte.
Sirinow beugte sich vor und spielte den Plan durch, der
in seinem Kopf Gestalt anzunehmen begann. Äußerst risikoreich,
das Ganze. Aber das war es wert.
Er ging zu Wassermanns Vitrinenschrank und zog eine
Platte heraus, die ihm beim ersten flüchtigen Durchblättern
schon in die Hände gefallen war. Symphonie in G-Moll von
einem gewissen Anton Fils. Der Name hatte ihn neugierig gemacht,
eben weil er ihm nichts sagte.
Er legte die Platte auf und ging zurück zum Sofa.
Die Violinen kamen sofort zur Sache, furios und dabei so
elegant, dass es Sirinow fast die Sprache verschlug. Die Geiger
spielten sich um den Verstand, angetrieben von einem Spinett.
Das sollte ein Deutscher komponiert haben? Und jemand, bei
dem so etwas im Plattenschrank stand, hatte es vorgezogen,
sich zu den Klängen von Wagner zu erschießen? Er dachte an
das, was er auf diesem Bauernhof zu Tarassow gesagt hatte:
Dieses ganze Land ist absurd.
Ein paar Takte lang tickte nur das Spinett. Dann explodierten
die Streicher erneut.
So muss es laufen, dachte Sirinow. Allegro Furioso.
Als er wieder im Archivraum saß, hatte Leos Puls sich immer
noch nicht beruhigt.
»Kaffee?«, fragte Wilhelm, der die ganze Zeit im Zimmer
auf und ab ging.
Leo schüttelte den Kopf. »Das würde mir den Rest geben.«
Wilhelm nickte geistesabwesend. Auch Friedrich hielt es
nicht auf dem Stuhl. Er ging zum Fenster und blickte hinaus
auf den spärlichen Verkehr, der sich über die Kreuzung schob.
Im Hintergrund erhob sich der spitze Turm der Lambertikirche
über einem Meer aus abgedeckten und ausgebrannten
Dächern. Hier und da waren Arbeiter schon dabei, neue
Dachstühle zu zimmern.
»Dass Sommerbier so dreist ist«, sagte Wilhelm wütend und
unterbrach seinen Schritt. »Was verspricht er sich davon, dass
er sich bei uns einschleicht?«
Friedrich drehte sich um und stand jetzt mit dem Rücken
zum Fenster.
»Vielleicht Informationen«, mutmaßte er. »Er kann ungestört
in den Akten schnüffeln und rausfinden, was die Briten
über ihn wissen. Außerdem ist die Besatzungsbehörde wirklich
der letzte Ort, an dem man ihn suchen wird. Die Höhle des
Löwen.«
»Wohl wahr«, sagte Wilhelm. »Aber er muss doch wissen,
dass das nicht lange gut gehen kann. Jederzeit könnte ein Foto
von ihm auftauchen. Oder er übersetzt bei einer Zeugenbefragung
und wird erkannt.«
»Wer hat ihn denn überhaupt eingestellt?«, fragte Friedrich.
»Die Dolmetscher werden zugeteilt«, sagte Wilhelm. »Es
gibt ein eigenes Büro, das sich darum kümmert.«
»Und die fragen nicht nach Papieren?«
»Natürlich fragen sie nach Papieren. Sommerbier hat wahrscheinlich
einen falschen Ausweis vorgelegt. Oder einen richtigen.
Vielleicht gibt es einen echten Stefan Kugler.«
Wilhelm begann wieder, wie ein gefangener Panther durch
den Raum zu streifen.
»Kann es sein, dass ihm jemand geholfen hat? Dass einer
von den Engländern mit ihm unter einer Decke steckt?«, fragte
Friedrich.
»Du meinst Hunt? Das habe ich vorhin auch schon überlegt.
Wo auch immer Sommerbier die Kisten versteckt hat, er
kann sie wahrscheinlich nicht ohne Hilfe rausholen.«
»Vielleicht will er sie ja auch erst mal in ihrem Versteck
lassen«, mutmaßte Friedrich.
»Glaube ich nicht. Dann wäre er nicht so schnell wieder
aufgetaucht. Und schon gar nicht bei uns. Dieses Spiel kann er
doch nicht lange durchhalten. Ich glaube, dass er etwas plant.
Er will die Wolowski-Sammlung bergen und dann untertauchen.
Alles andere hätte keinen Sinn. Vielleicht hat er über
seine alte Kunsthändler-Seilschaft sogar schon einen Käufer
dafür.«
Leo hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Vorstellung, dass
er Sommerbier so nahe gewesen war, verursachte ihm immer
noch eine Gänsehaut. Der Bunker nach dem Stromausfall.
Sommerbiers Hand in
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