Schattenspur
dass die Schatten von Kias Herkunft sie hier nicht einholen könnten, weil sie ihre Enkelin bestmö g lich geschützt hatte. Sie hatte sich geirrt. Jetzt musste sie schnell handeln, um das Schlimmste zu verhüten. Falls es nicht schon zu spät war.
Sie drehte sich um und stieß einen erschrockenen Laut aus. Hinter ihr stand ein hochgewachsen er Schwarzer, der sie um mehr als einen Kopf überragte. Sie hatte ihn nicht kommen gehört . Nicht einmal die Türglocken hatten einen Laut von sich gegeben, obwohl er durch die nicht verschlossene Lade n tür gekommen sein musste; einen anderen Eingang gab es nicht. Auch ohne den Stock aus glatt poliertem schwarzem Holz, um den sich zwei g e schnitzte Schlangen wanden und dessen Knauf ein Kinderschädel bildete, das Insignium seiner Macht, hätte Alma erkannt, wer vor ihr stand. Die schwa r zen A u gen des Mannes schimmerten rot in der Tiefe, wie es nur die Augen derer taten, die den Petro dienten.
Alma reckte das Kinn vor und sah ihm furchtlos in die Augen. „Du b e kommst Kia nicht. Sie ist einer anderen Gottheit geweiht.“
Er lächelte. Alma hatte in ihrem Leben schon manchen Mann kalt lächeln gesehen, aber bei keinem war es so eisig gewesen wie bei ihm. Sie hatte das Gefühl, dass es ihre Glieder einfror.
„Kianga gehört mir und den Petro. Sie wird an meiner Seite mit mir vereint über den Bizango herrschen. Du wirst das nicht verhindern, alte Vettel. Dazu ist deine Macht nicht groß genug.“
Alma überlegte fieberhaft, was sie tun könnte, um ihn aufzuhalten. Seine Einschätzung, dass ihre Macht nicht ausreichte, um es mit ihm aufzunehmen, traf möglicherweise zu. Sie musste Zeit gewinnen. „Das mag sein. Doch die Petro haben keine Macht über Kia, solange sie unter dem Schutz ihrer eig e nen Gottheit steht. Den wird sie niemals aufgeben. Das müsste sie aber tun, damit die Petro Macht über sie gewinnen können.“
Er lachte leise. Es klang wie das Rasseln einer Klapperschlange. „Genau das wird sie tun. Sie wird sich freiwillig den Petro angeloben. Dazu bedarf es nur des richtigen Anreizes für sie.“ Er machte einen Schritt auf sie zu.
Alma wich zurück und stieß gegen den Tisch. Sie tat, als würde sie sich mit der Hand darauf abstützen. Stattdessen nahm sie die Orakelknochen. Ihr war klar, dass sie ihm nicht entkommen konnte. Selbst wenn er nicht erheblich größer und stärker gewesen wäre als sie, so wurde sie durch ihre Körperfülle und die damit verbundene Unbeweglichkeit behindert. Nicht zu verge s sen ihr Alter. Aber auch mit siebzig war sie keinesfalls wehrlos.
Sie warf ihm die Knochen ins Gesicht und griff gleichzeitig mit der anderen Hand nach dem Messer, das neben dem Orakeltuch auf dem Tisch lag und mit dem sie am Nachmittag einer Kundin eine Haarsträhne für einen Liebe s zauber abgeschnitten hatte. So schnell sie es vermochte, stach sie mit aller Kraft zu.
Der Stich ging ins Leere. Er hatte offenbar mit einem Angriff gerechnet und war den geworfenen Knochen ausgewichen. Statt mit dem Messer sein verfluchtes Herz zu treffen, traf sie der Knauf seines Stockes. Der Kinde r schädel knallte gegen ihre Augenbraue. Sie platzte auf, und Blut lief ihr über das Gesicht. Alma wankte von dem Schlag. Das Messer entfiel ihrer Hand. Ihre Beine gaben nach.
Er fing sie auf und ließ sie in einen Sessel fallen. Trotz ihrer Schmerzen r e gistrierte sie, dass er unglaublich stark war.
„Du kommst mir nicht in die Quere, alte Vettel.“
Alma japste nach Luft. Ihre Sicht klärte sich. Er holte ein Fläschchen aus seiner Jackentasche. Sie erkannte ein gelbliches Pulver darin. Kaltes Entsetzen packte sie. Was er plante, war schlimmer als der Tod. Sie versuchte, ihn a b zuwehren, als er das Fläschchen öffnete, aber sie war zu schwach und hätte ihn nicht mal abwehren können, wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre. Er blies ihr das Pulver ins Gesicht. Lähmung breitete sich in ihr aus. Alma wusste, dass die in ein paar Minuten wieder nachlassen würde. Aber dann wäre es zu spät. Er packte ihren Kopf mit beiden Händen und zwang sie, in seine Augen zu sehen. Sein Blick drang in ihren Geist und nahm Alma mit sich.
*
Kia wusste, dass in der Viertelstunde, seit sie den Laden ihrer Gro ß mutter verlassen hatte, etwas Schlimmes passiert war; denn als sie vor dem Laden ankam, sah sie, dass die Tür nur angelehnt war. Sie rannte hinein.
„Großmutter?“
Hinter dem Vorhang, der das Beratungszimmer vom Laden trennte, schimmerte
Weitere Kostenlose Bücher