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Schattenspur

Schattenspur

Titel: Schattenspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Laue
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Kerzenlicht. Kia riss den Vorhang zur Seite und blieb wie ang e wurzelt stehen. Ihre Großmutter saß starr in ihrem Sessel. Aus einer Verle t zung über der Augenbraue rann Blut ihre Wange hinunter über das Kinn, vermischte sich mit dem Speichel, der aus ihren Mundwinkeln getreten war, und tropfte auf ihre Brust. Ihre Augen starrten blicklos ins Leere. Jeder Fu n ken ihres Verstandes war darin erloschen.
    Kia sank schluchzend neben ihr auf die Knie, umklammerte ihre Hand und drückte einen Kuss nach dem anderen darauf, als könnte sie dadurch die Seele ihrer Großmutter erreichen, sie zurückholen von dem finsteren Ort, an dem sie sich befand. Doch das war unmöglich.
    Das war alles ihre Schuld. Sie hätte in Haiti bei ihrem Vater bleiben und ihm gehorchen sollen. Hätte sich den Petro angeloben, ein Mitglied des Bizango werden und den Mann heiraten sollen, den er ihr bestimmt hatte. Dann wäre das alles nicht passiert. Dann würde ihre Mutter noch leben und ihre Großmutter jetzt nicht ein Schicksal erleiden, das schlimmer war als der Tod.
    Sie drückte deren reglose Hand gegen ihre Brust, streichelte sie und weinte. Sie hätte wissen müssen, dass sie sich nicht ewig vor ihrem Schicksal verst e cken konnte. Dass zumindest Louis sie irgendwann finden würde, weil er niemals aufhören würde, nach ihr zu suchen. Sie hätte nie zu ihrer Großmu t ter ziehen und bei ihr oder auch nur in ihrer Nähe leben dürfen. Hätte wie eine Nomadin im ganzen Land herumziehen und niemals lange genug an einem Ort blieben dürfen, dass er sie aufspüren konnte.
    Aber ohne die Hilfe ihrer Großmutter hätte sie sich nach ihrer Flucht aus Haiti nie in diesem ihr fremden Land zurechtgefunden. Außerdem war sie ihre einzige ihr bekannte Verwandte. Falls es noch andere gab, hatte weder ihre Mutter noch ihre Großmutter sie jemals erwähnt.
    Kia stand schließlich auf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie musste etwas unternehmen, um ihrer Großmutter zu helfen. Sie rutschte auf etwas aus, das knirschend unter ihrer Schuhsohle zerbrach und sah, dass die Orakelknochen auf dem Boden verstreut waren. Offenbar hatte Louis ihre Großmutter überrascht, als sie das Orakel befragte. Auf dem Tisch steckte ein Messer aufrecht in der Holzplatte, mit dem ein Stück Papier darauf fes t genagelt war. Kia zog das Messer heraus und faltete den Zettel auseinander. Louis’ Handschrift, ohne Zweifel. Sie kannte niemanden, der Buchstaben so eckig schrieb wie er. Außerdem hatte er die Botschaft mit seinem persönl i chen Symbol signiert, dem Totenschädel mit der Feder zwischen den Zähnen.
    „Die vierte Seele. Kommst du nicht bis morgen Abend zu mir, hole ich mir jeden Tag eine weitere. Bist du nicht bis zum Neumond gekommen, vernic h te ich sie alle. Die der alten Vettel zuerst. Du allein kannst die Seelen retten. Du weißt, wie du mich finden kannst.“
    Kia ließ sich auf den Stuhl fallen, auf dem sonst die Kunden saßen, und stützte die Stirn in die Hand. Jetzt begriff sie, was der Pot-de-tête mit den aufgemalten drei Kreuzen und weiteren Strichen zu bedeuten hatte, den er auf ihre Tür gemalt hatte. Drei Kreuze – drei Seelen, die er schon gefangen und in einen Pot-de-tête gesperrt hatte, ein Seelengefäß, in dem sie noch exi s tierten und aus dem sie befreit werden und wieder in die Körper der Me n schen zurückkehren konnten, wenn die Gefäße zerstört wurden. Die noch nicht durchkreuzten Striche – Symbole für weitere Seelen, die er fangen wü r de, wenn Kia ihm nicht gehorchte.
    Ihr erster Impuls war, zu tun, was er verlangte und sich ihm zu ergeben, um nicht nur die Seelen zu retten, die er bereits besaß, sondern ihn daran zu hi n dern, weitere zu fangen und zu zerstören. Aber das konnte und durfte sie nicht tun. Ihre Mutter hatte ihr Leben geopfert, um Kia die Flucht zu ermö g lichen, damit sie niemals den Petro diente und Louis sie nicht in seine Gewalt bekam. Wenn sie sich von ihm erpressen ließ, machte sie das Opfer ihrer Mutter zunichte. Das hätte sie niemals gewollt. Auch ihre Großmutter würde lieber die Vernichtung ihrer Seele in Kauf nehmen, als zuzulassen, dass Kia sich dem Bizango anschloss.
    Außerdem hegte sie erhebliche Zweifel, dass Louis zu seinem Wort stehen würde und die Seelen tatsächlich freiließ. Er war ein Bokor , ein Schadensza u berer, der seine Macht aus dem Tod bezog. Seine Wut auf ihre Großmutter musste gewaltig sein, weil sie ihm Kia über zehn Jahre hinweg entzogen hatte. Selbst wenn

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