Schattenspur
mit dem sie sich zu einem Essen und einem anschließenden Spaziergang am Fluss treffen könnte. Ein Mann, auf den sie sich einlassen könnte, ohne Angst haben zu müssen, dass er sie benutzen oder ihre Seele versklaven wollte wie Louis. Eine herrliche Vorstellung, der sie sich eine Weile hingab, ehe sie sich die Realität wieder bewusst machte.
Er war ein FBI-Agent, und er traute ihr nicht, weil er zu viel wusste. Woher auch immer. Wie hatte er rausgefunden, dass Kia und ihre Großmu t ter Louis kannten? Sie schüttelte den Kopf. Im Moment war das unwichtig. Er würde morgen mit seinem Partner wiederkommen und sie verhaften, wenn sie ihm seine Fragen nicht beantwortete. Was sie nicht konnte, ohne ihre Großmutter und die anderen Opfer in noch größere und vor allem tödl i che Gefahr zu bringen. Und wenn sie im Gefängnis saß, konnte sie Louis nicht aufhalten.
Nun gut. Sie würde morgen nicht mehr hier sein, wenn Scott und sein Partner auftauchten. Sie packte ein paar Sachen ein und vor allem das Buch, in dem sie gelesen hatte, bevor sie eine Pause brauchte und zum Starbucks gegangen war, um einen Zimtkaffee zu trinken. Was für ein Zufall, dass sie dort ausgerechnet Agent Scott über den Weg gelaufen war. Wayne. Ein sch ö ner Name.
Sie rief ein Taxi und ließ sich zum Busbahnhof fahren. Statt in einen Bus zu steigen, der sie aus der Stadt brachte, ging sie um die Ecke zur Haltestelle eines normalen innerstädtischen Busses und stieg an einer anderen Haltestelle aus, die weit genug von ihrem Ziel entfernt lag, sodass vom Ort der Halteste l le aus keine Rückschlüsse darauf möglich waren. Sie musste damit rechnen, dass das FBI eine Fahndung nach ihr initiierte, wenn sie verschwunden war. Deshalb konnte sie weder ihren Wagen benutzen noch sich in der Wohnung ihrer Großmutter verstecken. Dort würde man sie zuerst suchen. Ein Hotel schied auch aus, weil sie ihre Kreditkarte nicht benutzen konnte und man sie sowieso schnell über die Anmeldung finden würde. Einen falschen Namen zu benutzen hielt sie für zu riskant. Außerdem war ein Hotel sowieso zu teuer. Sie ging zu einem Mietshaus in der Jefferson Street und klingelte an Charlie Hannahs Tür. Zu ihrer Erleichterung war er zu Hause.
„Joy!“ Er starrte sie überrascht an, vor allem ihre Reisetasche.
„Hi Charlie. Ich …“ Nun, da sie vor ihm stand, fand sie, dass es doch keine so gute Idee gewesen war, zu versuchen, ausgerechnet bei ihm Unterschlupf zu finden. Andererseits war er der einzige Mensch, den sie näher kannte.
Er gab die Tür frei und machte eine einladende Geste. „Komm rein. Was ist passiert?“ Er führte sie ins Wohnzimmer und räumte hastig ein paar Zei t schriften zur Seite, damit sie sich in einen Sessel setzen konnte. „Setz dich.“
Kia nahm Platz. Er setzte sich auf die Couch und blickte sie erwartungsvoll an. „Meine Großmutter. Jemand hat sie angegriffen. Sie liegt im Kranke n haus.“
„Jesus! Hat man den Kerl erwischt?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe an meiner Tür bedrohliche Schmierere i en gefunden. Es sieht so aus, als wäre der Kerl auch hinter mir her. Kann ich vielleicht ein paar Tage bei dir bleiben? Ich kann mir ein Hotel nicht leisten und …“
„Kein Problem. Kannst mein Bett haben. Ich schlafe auf der Couch.“ Er klopfte auf das Polster neben sich.
„Danke.“ Sie atmete tief ein. „Charlie, bitte missverstehe das nicht. An dem, was ich gestern gesagt habe, ändert sich nichts. Ich kenne nur niema n den gut genug, den ich fragen könnte. Dem ich vertrauen könnte.“
„Kein Problem“, wiederholte er. „Ich bin die meiste Zeit sowieso nicht zu Hause. Arbeit und so. Also mach es dir bequem.“ Er lächelte ermutigend und deutete zur winzigen Küche, die nur mit einem Vorhang vom Wohnzimmer abgetrennt war. „Wenn du uns was Gutes zu essen machst, wechsle ich in der Zwischenzeit die Bettwäsche. Okay?“
Sie nickte und ging in die Küche. Charlie verschwand im Schlafzimmer. Während sie in den Schränken nachsah, was er an Vorräten hatte – viel war es nicht –, dachte sie mit einem Anflug von Bitterkeit daran, dass sie genau genommen allein dastand. Ihre Großmutter war ihre einzige Bezug s person. Aus Angst vor Louis, wenn auch nicht nur deshalb, hatte sie zu anderen Menschen Distanz gehalten und niemanden an sich herangelassen. Weil sie keine Freunde haben wollte, wenn sie gezwungen wäre, vor ihm die Flucht zu ergreifen. Immer wieder Menschen zurückzulassen, die ihr nahestanden,
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