Schattenspur
immer noch vor ihm empfand. Siebzehn Jahre hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt, davor acht Jahre lang nur schriftlich miteinander verkehrt und selbst das nur sehr sporadisch. Aber ihre Angst hatte in all den Jahren nicht nachgelassen. Sie saß so tief, dass sie es nicht einmal über sich brachte, ihm die Hand zu reichen. Wahrscheinlich fürchtete sie, dass er dadurch erst recht ihre Gedanken lesen konnte.
Berührung erleichterte ihm zwar den telepathischen Kontakt, aber die G e danken seiner Mutter hätte er auch dann so stark abgeblockt, wie er konnte. Er hatte keine Lust, noch mehr verletzt zu werden, indem er ihren Gedanken entnahm, dass er für sie immer noch das Teufelskind, das Monster, die N e mesis war, mit der Gott sie wofür auch immer gestraft hatte. Das war durch ihr Verhalten offensichtlich genug.
„Alles Gute zum Hochzeitstag“, wünschte er und nickte Bill Cody zu. „Du scheinst ein besserer Mann zu sein als mein Vater. Also behandle deine Frau gut. Sie hat es verdient.“
„Definitiv“, stimmte Cody inbrünstig zu. Er legte wieder den Arm um seine Frau. „Ella, willst du nicht …“
„Ich muss los“, unterbrach Wayne. „Nochmals alles Gute für euch zwei.“
Er wartete eine Antwort nicht ab, sondern machte, dass er wegkam. Dass seine Mutter nicht mal ein einziges Wort für ihn gehabt hatte, noch nicht einmal den harmlosen Gruß „Hallo Wayne“ oder auch nur „Hallo“, schmer z te ihn mehr, als er erwartet hatte.
Hinter sich hörte er Codys Stimme. „Ella, was ist denn los? Du hast deinem Sohn nicht mal guten Tag gesagt. Das ist doch wirklich dein Sohn?“
Er hörte, wie seine Mutter anfing zu weinen. Er beschleunigte seine Schritte und bog nach wenigen Yards in die Barnard Street ein, statt geradeaus weiter bis zur Jefferson zu gehen. Auch über die Barnard konnte er die West Bay erreichen und ihr geradeaus bis zum Hotel folgen. Er merkte, dass seine Hände zitterten. Innerlich zitterte er ebenso.
Verdammt, er war FBI Agent, Mitglied einer Sondereinheit und hatte es mit Dämonen zu tun bekommen, von denen keiner so menschenfreundlich oder überhaupt freundlich gewesen war wie Sam. Er war psychische, physische und nervliche Belastung gewohnt und darauf trainiert, sie wegzustecken, ohne sich beeinträchtigen zu lassen. Aber eine Begegnung mit seiner Mutter e r schütterte ihn so stark, dass er zitterte.
Er fragte sich, wie sie ihrem Mann begründete, warum sie Wayne nicht b e grüßt hatte. Bestimmt griff sie der Einfachheit halber Waynes Behauptung auf, dass sie immer noch unversöhnlich sauer auf ihn war, weil er ihr offe n bart hatte, dass sein Vater sie betrog. Alles andere würde sie garantiert wie gewohnt verschweigen. Abgesehen davon, dass Cody ihr wohl kaum geglaubt hätte, dass es Telepathie gab und Wayne diese Fähigkeit besaß, steckte der Irrglaube, dass Gott sie bestraft hatte, indem er sie so eine Missgeburt zur Welt bringen ließ, zu tief in ihr, als dass sie das freiwillig zugegeben hätte.
Die Erinnerung an den Kuss, den er mit Joy geteilt hatte, linderte seinen Schmerz. Egal welche Konsequenzen der noch für ihn haben mochte oder was ihr Motiv gewesen war, ihn ihm zu geben, er würde sich noch lange d a ran erinnern. Weil er ihm für ein paar kostbare Augenblicke ein Gefühl von Wärme, Zugehörigkeit und bedingungsloser Akzeptanz gegeben hatte. Auch wenn das nur eine Illusion war, tat sie ihm trotzdem gut.
*
Kia lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür, nachdem Agent Scott gega n gen war und versuchte, ihre aufgewühlten Gefühle unter Kontrolle zu bri n gen. Die befanden sich aus mehr als einem Grund in Aufruhr. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum sie Scott geküsst hatte. Dass sie ihn damit a b lenken wollte, damit er nicht auf der Beantwortung seiner eindringlichen Frage bestand, entsprach zwar der Wahrheit, war aber nicht die vollständige Wahrheit. Dass sie sich in dem Moment schwach gefühlt hatte und auf diese Weise nach Trost und Halt gesucht hatte, stimmte zwar auch, aber da war noch eine Menge mehr im Spiel gewesen. Das hatte sie jedoch erst gefühlt, als sie ihn küsste.
Die Art, wie er auf ihren Kuss reagiert hatte, wie er sie hielt, wie er sie an sich gedrückt hatte – Halt gebend und zärtlich zugleich – sagte ihr eine Me n ge über ihn als Mensch. Und was bei dem Kuss noch übertragen worden war – Gefühle und ein Eindruck von Stärke und Güte –, ließ sie sich wünschen, dass er kein FBI-Agent wäre, sondern ein Mann,
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