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Schattenspur

Schattenspur

Titel: Schattenspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mara Laue
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er, als nicht nur wie vorhin sein Körper zu kribbeln begann, sondern dieses Kribbeln sich so sehr steigerte, dass es ihn wie wellenartige Stromstöße durchdrang. Bevor er seine Hand zurückziehen – zurückreißen konnte, warf sich Joy ihm in die Arme, die er reflexartig um sie schloss, und küsste ihn, als wäre er ihre letzte Rettung. Oder überhaupt etwas – jemand, der ihr Halt gab. Sein Impuls, sie zurückzustoßen, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde und wurde nie in die Tat umgesetzt. Er hielt sie und erwiderte ihren Kuss, der nach süßem Kaffee und Zimt schmeckte; genoss die Wärme ihres Körpers und ihres Mundes, die ihm in die Seele zu dringen und sie zu wärmen schien, und wünschte sich nicht nur, sie ewig halten und küssen zu können, sondern sie auch vor allem Leid zu bewahren und zu beschützen. Noch mehr wünschte er sich, mit ihr endlich seine Einsamkeit beenden zu können, der er sich in diesem Moment aufs Schmerzhafteste bewusst wurde. Mit Joy in den Armen hatte er das Gefühl, nach Hause zu kommen.
    Er spürte noch etwas anderes. Als wenn der enge Kontakt durch den Kuss ihm Zugang zu ihrem Geist gab – in sehr engen Grenzen –, überfluteten ihn Eindrücke von Kraft, Entschlossenheit und Bilder, die er nicht einordnen konnte, die aber finster und bedrohlich wirkten. Das ernüchterte ihn. Er u n terbrach den Kuss, wenn auch widerstrebend und ließ Joy los. Sie trat einen Schritt zurück. Die Tränen waren aus ihren Augen verschwunden, ebenso der Ausdruck von Leid. Geblieben war etwas, das er nicht benennen konnte, das ihm aber einen Eindruck von unbeugsamer Macht vermittelte.
    „Ich werde tun, was getan werden muss, Agent Scott“, kam sie der En t schuldigung zuvor, die er ihr für seine mangelnde Selbstbeherrschung au s sprechen wollte. „So wie Sie ebenfalls tun müssen, was getan werden muss.“ Sie sah ihm in die Augen.
    „Mein Partner und ich werden Sie morgen noch einmal befragen, Ms. Renard.“ Seine Stimme klang gepresst. Er räusperte sich. „Bis dahin haben Sie Zeit, sich zu überlegen, ob Sie freiwillig mit uns kooperieren oder uns durch Ihr fortgesetztes Schweigen zwingen wollen, Sie tatsächlich zu verha f ten. Bitte entscheiden Sie weise.“
    Er öffnete die Tür und verließ ihre Wohnung und das Haus so schnell er konnte. Draußen atmete er ein paar Mal tief durch, um seine Gedanken zu klären und vor allem das Gefühl, unter Strom zu stehen, aus seinem Körper zu vertreiben. Ihm war nur allzu bewusst, dass er einen großen Fehler g e macht hatte. Er hätte Joy sofort zurückweisen sollen, als sie sich ihm an den Hals geworfen hatte. Dadurch, dass er es nicht getan hatte, war er angreifbar geworden. Sollte sie auf den Gedanken kommen, ihn anzuzeigen, konnte er nicht mehr reinen Gewissens oder überhaupt behaupten, der Kuss wäre g e gen seinen Willen geschehen, beziehungsweise nur versucht worden. Er hatte mitgemacht. Und es war verdammt schön gewesen. Allerdings sagte ihm seine Intuition, dass sie ihm daraus keinen Strick drehen würde; dessen war er sich sicher.
    Er fragte sich, was Joy damit bezweckt hatte. Er hatte das Gefühl, dass mehr dahintersteckte als der Wunsch, in einem Moment der Schwäche g e tröstet zu werden. Dafür war dieser Moment zu schnell vorüber gewesen. Und ihre Bemerkung, dass sie tun würde, was getan werden musste, konnte man durchaus als Drohung interpretieren. Zwar hatte er den Ei n druck, dass das nicht so gemeint war, aber er konnte im Moment nicht klar genug de n ken, um das mit Sicherheit auszuschließen.
    Er erwog, Travis anzurufen und herzubitten, um Joy sofort noch einmal und ganz offiziell zu verhören, entschied sich aber dagegen. Zum einen mus s te er sich erst wieder vollständig unter Kontrolle bringen, zum anderen mus s te er sich wegen seines Fehlverhaltens absichern, bevor er ihr erneut gege n übertrat. Das bedeutete, er musste O’Hara informieren. Das Donnerwetter seiner Chefin hörte er jetzt schon. Doch es führte kein Weg daran vorbei.
    Er machte sich auf den Rückweg; zu Fuß, wie er gekommen war. Er brauchte die Bewegung und die Zeit, um sich zu fangen. Für den Rückweg wählte er eine andere Route als den Weg, den er gekommen war. Zwar nahm er zunächst den gleichen Weg über die Perry Street und bog an der Ecke rechts in die Drayton ein. Statt aber wieder die Broughton zu ne h men, ging er zwei Straßen weiter und bog in die West Congress Street ein, nachdem er sich auf dem Stadtplan orientiert hatte. Solche

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