Schattenspur
wäre mehr, als sie auf die Dauer ertragen könnte. Außerdem machten Freu n de sie angreifbar; erpressbar. Doch dazu genügte bereits ein einziger Mensch, und den hatte er sich genommen: Großmutter. Verdammt, sie hatte sich zu sicher gefühlt, nachdem sie zehn Jahre lang ihre Ruhe gehabt hatte. Sie hatte bego n nen, daran zu glauben, dass er sie niemals finden würde. Das rächte sich jetzt.
Während sie Reis aufsetzte und eine Fleischkonserve öffnete, deren Inhalt sie in der Pfanne mit Zwiebeln braten würde, dachte sie an den Kuss von Wayne Scott. Er hatte sich wunderbar angefühlt. Die Sehnsucht nach einem normalen Leben mit einem Mann und einer Familie überschwemmte sie so heftig, dass ihr die Tränen kamen. Sie wischte sie hastig weg. Sie würde nie eine eigene Familie haben. Das wusste sie schon lange. Deshalb war ihre vo r dringlichste Aufgabe, Louis aufzuhalten. Sobald sie nachher Ruhe hatte und sich Charlie schlafen gelegt hatte, würde sie das Buch zurate ziehen. Wenn es eine Möglichkeit gab, einen so mächtigen Bokor wie Louis zu sto p pen, stand sie darin geschrieben. Wenn nicht …
*
Travis saß in seinem Zimmer, als Wayne zurückkehrte.
„Ich habe den Stock identifiziert“, begrüßte er Wayne. „Er gehört zu …“ Er unterbrach sich, als er Waynes Gesicht sah, der wortlos an die Minibar getreten war und sich einen Whiskey einschenkte.
Indem er die Flasche in Travis’ Richtung schwenkte, fragte er, ob der ebe n falls ein Glas trinken wollte. Travis nickte.
„Werden wir den Weltuntergang überleben, den deine Miene verkündet? Und reicht die Zeit noch aus, sich einen hübschen Sarg auszusuchen?“
Wayne goss ein zweites Glas voll und stellte es vor Travis auf den Tisch, ehe er sich setzte und sein Glas auf einen Zug halb leerte. „Da die Welt noch nicht ans Untergehen denkt, können wir uns mit dem Sarg noch Zeit lassen. Alles halb so wild.“
Travis wartete auf eine Erklärung. „Was ist passiert?“, fragte er, als Wayne keine Anstalten machte zu antworten.
Wayne atmete tief ein. „Ich bin meiner Mutter begegnet.“
„Oh.“ Travis trank ebenfalls. „Deiner Leidensmiene nach zu urteilen, war das wohl keine erfreuliche Begegnung.“
Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass ich zu meinen Eltern seit Ewigke i ten keinen Kontakt mehr habe. Jetzt erinnere ich mich wieder genau, warum ich den abgebrochen habe.“ Eigentlich wollte Wayne nicht darüber reden. „Sie hat mich nicht mal b e grüßt“, platzte es dennoch aus ihm heraus. „Hat kein einziges Wort gesagt, sondern mich nur angesehen, als wäre ich der Te u fel persönlich. Und das, obwohl sie sich inzwischen von meinem Vater hat scheiden lassen und mit einem anderen Mann verheiratet ist.“ Er schnaubte. „Dem hatte sie nicht mal was von meiner Existenz erzählt.“
Er kippte den Rest des Whiskeys hinunter und fühlte sich versucht, sich zu betrinken. Selbstverständlich würde er das nicht tun. Er brauchte einen klaren Kopf. Aber wenn das alles hier vorbei war, würde er das nachholen. Er stellte das leere Glas auf den Tisch, ging zur Kaffeemaschine und setzte eine neue Kanne auf, nachdem er festgestellt hatte, dass die auf dem Tisch leer war. „Was soll’s? Ich habe nichts anderes erwartet.“ Aber gehofft. Nun, auch diese Hoffnung war heute für alle Zeiten gestorben. Er hakte das Thema ab.
Travis leerte sein Whiskeyglas ebenfalls. „Ich habe es dir immer wieder a n geboten und tue es auch weiterhin: Ich teile meine Familie gern mit dir. Du bist uns willkommen. Und meine Leute haben keine Berührungsängste mit Telepathen, wie du dich erinnern wirst.“
Wayne erinnerte sich. Beim einzigen Mal, als er Travis zu einem Wei h nachtsfest zu dessen Familie begleitet hatte, war ihm beinahe das Herz stehen geblieben, als Travis ihn ganz ungeniert als seinen Partner vorgestellt hatte, der Gedanken lesen konnte. Die Halifaxes hatten völlig gelassen darauf re a giert. Travis’ Mutter hatte es apart gefunden, seine ältere Schwester fand es interessant, die jüngere cool, und der Vater hatte akkurat vermutet, dass das keine leicht zu tragende Gabe war. Davon abgesehen ha t ten sie ihn ebenso wie Travis wie einen ganz normalen Menschen behandelt. Gerade deswegen hatte Wayne weitere Einladungen abgelehnt. Zu groß war seine Angst, dass er sich an diese Akzeptanz gewöhnen könnte, weshalb es ihn umso härter g e troffen hätte, wenn eine Situation eingetreten wäre, in der einer von ihnen instinktive und
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