Schattenspur
Erkundungstouren, wie er sie nan n te, verbesserten seinen Orientierungssinn und hatten den profanen Nebene f fekt, dass er die Stadt, in der er sich befand, besser kennenlernte. Das konnte von unschätzbarem Vorteil sein. Falls er dieses Wissen nicht benötigen sollte, hatte er trotzdem einen intensiven Einblick in eine neue Stadt bekommen, der sich bei einem nächsten Besuch auszahlen konnte.
Während er durch die schmalen Straßen ging, überlegte er, wie er Joy zum Reden bringen könnte. Ob er ihr offenbaren sollte, dass er Telepath war? Manchmal half allein die vage Möglichkeit, dass er die Wahrheit sagen kön n te, um jemanden zum Reden zu bringen. Meistens aber nicht, weil jeder das für einen Scherz hielt. Und wenn die Leute dann feststellten, dass er die Wahrheit gesagt hatte, war er in ihren Augen ein Monster. Was ihm die ‚O p fer‘ manchmal sogar ins Gesicht sagten, in jedem Fall aber immer dachten. Außerdem brachte das nichts, weil er Joys Gedanken nicht lesen konnte. Wenn er es auf den Bluff ankommen ließ, konnte der Versuch allzu leicht nach hinten losgehen. Am besten beriet er sich mit Travis und eventuell auch mit O’Hara. Mit der musste er sowieso reden.
Er überquerte die Whittaker Street, an deren Ecke sich ein Lokal befand, The Lady and Sons , von dem er in der Hotellounge einen Prospekt gesehen hatte, der zu einem dort stattfindenden Event einlud. Ein älteres Paar strebte dem Eingang zu. Der Mann hatte den Arm um die Schultern der Frau gelegt und hielt mit der anderen Hand ihre. Beide wirkten glücklich; verliebt. Wayne verspürte einen Stich im Herzen. Die Frau war seine Mutter, und sie sah jü n ger und vitaler aus, als er sie seit seiner letzten Begegnung in Erinnerung ha t te. Aber der Mann an ihrer Seite war nicht sein Vater. Was tat sie hier in S a vannah?
Da er ihnen halb im Weg stand, mussten sie zwangsläufig von ihm Notiz nehmen, um ihm auszuweichen. Die Augen seiner Mutter wurden groß, als sie ihn erkannte. Sie wurde kreidebleich, blieb abrupt stehen und schlug die Hand vor den Mund. Stieß einen wimmernden Laut aus, der Wayne einen weiteren Stich versetzte und ihm zeigte, dass er richtig gehandelt hatte, als er sich entschloss, nie wieder Kontakt zu seinen Eltern zu suchen, nachdem er volljährig geworden war.
Der Mann blickte sie irritiert an, ehe er sich zwischen Wayne und seine Mutter schob und ihn drohend ansah. „Darf ich fragen, wer Sie sind, Sir, dass Sie meiner Frau solche Angst einjagen?“
Seine Frau? Demnach hatte sie sich irgendwann scheiden lassen und wieder geheiratet. Sie musste ihre Einstellung sehr verändert haben, da sie früher streng das Gesetz Gottes befolgt und eine Scheidung deshalb strikt abgelehnt hatte. Er zückte seinen Dienstausweis, den er immer bei sich trug, auch wenn er privat unterwegs war. „FBI Special Agent Wayne Scott. Hallo Mutter.“
Der Mann sah von einem zur anderen. „Mutter? Ella, du hast mir nie e r zählt, dass du einen Sohn hast.“
„Das wundert mich nicht.“ Wayne staunte, wie bitter seine Stimme klang. Er nahm sich zusammen. „Seit ich herausgefunden habe, dass mein Vater meine Mutter betrügt und ich deswegen aus dem Haus geworfen wurde, bin ich Persona non grata und werde seither konsequent totgeschwiegen. Obwohl das schon Jahre her ist.“ Deshalb kam die Information, dass Wayne beim FBI war, für seine Mutter ebenso überraschend wie die unerwartete Begegnung.
Der Mann ergriff spontan seine Hand und schüttelte sie heftig. „Zumindest ich bin Ihnen – dir dafür zutiefst dankbar. Andernfalls hätte Ella sich niemals scheiden lassen und ich hätte sie nicht heiraten können. Also vielen Dank! Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Bill Cody. Und nein, ich bin nicht verwandt mit Buffalo Bill.“ Er gab Wayne einen Schlag auf die Schulter. „Hey, gehen wir doch zu dritt essen und feiern.“ Er deutete auf das Lady and Sons . „Heute ist nämlich unser fünfter Hochzeitstag. Und ohne dich hätten wir den, wie schon gesagt, nie erlebt.“
Seine Mutter wurde erneut blass.
Wayne schüttelte den Kopf. „Ich bedauere. Ich bin im Dienst. Unterwegs zu einem Undercover-Einsatz.“ Er deutete auf seine Kleidung. „Deshalb wäre ich euch dankbar, wenn ihr, falls wir uns noch mal begegnen sollten, so tut, als würden wir uns nicht kennen.“
Seine Mutter blickte ihn dermaßen erleichtert an, dass er einen weiteren Stich verspürte. Er brauchte seine Gabe nicht zu bemühen, um die Angst zu erkennen, die sie
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