Schattenstunde
»Derek.«
»Derek? Ist das seiner?« Ich warf einen schnellen verstohlenen Blick über die Schulter, zu den Büschen hin, um ihre Aufmerksamkeit in diese Richtung zu lenken. »Ich-ich-ich hab Derek seit dem Abendessen nicht mehr gesehen. Ist e-er auch hier draußen?«
»Oh, ich bin mir ziemlich sicher, dass er das ist. Längst auf und davon, nehme ich an, mit Simon und Rae. Während du hier Schmiere stehst und das Ablenkungsmanöver lieferst.«
»W-was?« Dieses Mal war das Stottern vollkommen echt. »A-auf und …? N-nein. Derek und ich haben …« Ich machte eine scheue Handbewegung zu den Büschen hin. »Er kennt den Schließcode, also sind wir hier rausgekommen, weil wir hier allein sind, und … na ja, Sie wissen schon.«
Sie trat näher an mich heran, den Strahl der Taschenlampe direkt in meine Augen gerichtet. »Da weitermachen wolltet, wo ihr am Freitagnachmittag aufhören musstet?«
»Schon.« Ich zog mein T-Shirt nach unten und versuchte beschämt auszusehen.
»Bildest du dir wirklich ein, dass ich dir das abkaufe, Chloe? Mädchen wie du sagen zu Jungen wie Derek Souza nicht mal »Hallo«, ganz zu schweigen davon, dass sie sich mit ihnen in Kriechkellern und Sträuchern herumwälzen.«
Mein Kopf fuhr hoch. »A-aber Sie haben uns doch erwischt. Freitag. Sie waren es doch, die gesagt hat …«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, Chloe. Und ich weiß auch, was ihr in dem Kriechkeller wirklich getrieben habt. Ich hab deine neuen Freunde gefunden.«
Ich stand da wie angewurzelt, ohne glauben zu können, was ich gerade hörte.
»Was haben sie dir erzählt?« Ihre Finger legten sich um meinen Arm. »Es waren seine, stimmt’s? Samuel Lyles Versuchsobjekte.« Sie beugte sich zu mir, ihre Augen glänzten so fiebrig, wie Dereks es getan hatten, aber bei ihr war eine Spur Wahnsinn dabei. »Haben sie dir von seinen Geheimnissen erzählt? Seinen Entdeckungen? Ich sorge dafür, dass niemand sonst weiß, dass du weggelaufen bist. Ich sage, ich hätte dich im Fernsehzimmer gefunden, du wärst da drin eingeschlafen. Erzähl mir einfach, was diese Geister gesagt haben.«
»Ich-ich-ich kann nicht mit Geistern reden.«
Ich versuchte mich loszumachen, aber ihre Finger packten nur noch fester zu. Ich gab nach, als hätte ich aufgegeben, und warf mich dann in die andere Richtung. Ihre Hand rutschte von meinem Arm ab, aber ich hatte zu heftig gezerrt, verlor das Gleichgewicht und stolperte. Sie stürzte sich auf mich. Ich warf mich auf den Boden und rollte mich weg, als eine dunkle Gestalt über das Geländer der Veranda hinwegflankte.
Dr. Gill hatte gerade genug Zeit, um den Schatten über sie hinweggleiten zu sehen. Sie fuhr herum und öffnete den Mund. Derek kam unmittelbar vor ihr auf. Ihre Arme flogen nach oben, sie stieß einen schrillen Schrei aus und wollte zurückweichen, aber sie hatte die Drehung noch nicht vollendet und stolperte über ihre eigenen Füße. Noch im Fallen versuchte sie, etwas aus ihrer Tasche zu fischen. Derek warf sich über sie und nagelte ihren Arm am Boden fest, als sie ein Funkgerät herauszerrte. Das Gerät flog ins Gras, und Dr. Gill schlug mit dem Schädel auf der zementierten Fläche auf.
Ich stürzte hin. Derek war bereits neben ihr in die Hocke gegangen und überprüfte ihren Puls.
»Alles okay«, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung. »Bloß bewusstlos. Komm, bevor sie aufwacht.«
Seine Finger legten sich um meinen Arm. Schmutzige, aber sehr menschliche Finger. Sein Gesicht und seine Hände waren wieder normal, nur das verdreckte, zerrissene T-Shirt zeugte noch von dem, was vorgefallen war. Ich machte mich los, trabte zu seinem Schuh hin und hob ihn auf. Dann drehte ich mich um und sah, dass er den Turnschuh in der Hand hielt, den ich abgestreift hatte.
»Tauschen wir?«
Wir zogen uns den jeweiligen Schuh wieder an.
»Simon wartet bei der Fabrik«, sagte ich. »Wir müssen ihn warnen. Die Leute hier wissen, dass die beiden weg sind.«
Er schob mich in Richtung Gartenzaun. »Auf der Straße ist es zu gefährlich. Nimm den Weg durch die Gärten.«
Ich warf einen Blick über die Schulter.
»Ich bin direkt hinter dir«, sagte er. »Los jetzt!«
Beim ersten Zaun begann ich zu klettern, aber Derek ging es nicht schnell genug. Also packte er mich und schwang mich hinüber. Dann flankte er selbst hinterher, als sei der Zaun eine Hürde auf dem Sportplatz. Zwei Häuser weiter ließ das Heulen einer Autosirene uns hinter einem Kinderhaus in Deckung
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