Schattenstunde
gehen.
»Polizei?«, flüsterte ich.
»Weiß nicht.«
Nach einer Pause sagte ich: »Dr. Gill weiß von den Leichen. Als ich sie beschworen habe, kann sie nicht in ihrem Büro gewesen sein. Sie weiß, dass ich mit Toten reden kann, und sie weiß auch über Sam Lyle und über …«
»Später.«
Er hatte recht. Ich schob den Gedanken zur Seite und konzentrierte mich auf die Sirene. Das Geräusch jagte in die Richtung, aus der wir gekommen waren, und brach dann ab.
»Haben die vor dem Haus gehalten?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Ich höre es noch. Weiter jetzt.«
Derek zufolge lagen sieben Gärten zwischen Lyle House und dem Ende des Straßenblocks. Ja, natürlich hatte er sie gezählt. Wir rannten durch den fünften, als sein Arm vor mir wie eine Bahnschranke herunterfuhr und ich dagegenrannte. Als ich mich umdrehte, hatte er den Kopf zur Seite gelegt und horchte. Zehn Sekunden vergingen. Ich zupfte ihn am T-Shirt, aber er ignorierte mich weitere zehn Sekunden lang. Dann senkte er den Kopf und flüsterte: »Ich höre einen Motor laufen. Da draußen steht ein Auto.«
»Wo?«
Eine ungeduldige Handbewegung. »Dort. Auf der Straße, über die wir müssen.« Er hob einen Finger. »Schritte. Da redet jemand. Eine Frau. Sie flüstert, was, kann ich nicht verstehen.«
»Erkennst du die Stimme?«
Er schüttelte den Kopf. »Bleib hier. Ich gehe näher ran, vielleicht hilft das.«
Er ging mit langen Schritten in Richtung Haus und blieb hinter einer Gruppe von Sträuchern stehen.
Ich sah mich um. Ich stand mitten im Garten. Jeder, der ein Geräusch hörte und zum Fenster hinaussah, würde mich sehen. Dereks Platz sah sehr viel geschützter aus. Als ich näher kam, fuhr er herum und spießte mich mit einem wütenden Blick auf.
»Sorry«, flüsterte ich und versuchte, mich langsamer und leiser zu bewegen.
Er winkte mich zurück. Als ich nicht stehen blieb, starrte er mich wieder wütend an und wandte sich dann ab. Ich schlich mich bis unmittelbar hinter ihn und blieb still stehen. Sein Kopf bewegte sich langsam. Ich nahm zunächst an, dass er den Stimmen zu folgen versuchte. Aber als er den Kopf in meine Richtung drehte, bemerkte ich das angehobene Kinn, die geblähten Nasenflügel, und mir wurde klar, dass er in der Luft herumschnupperte.
Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, bekam ich einen wirklich finsteren Blick zu sehen.
»Erkennst du den, äh, den … ?«
»Geruch.« Er spuckte das Wort förmlich aus. »Ja, ich kann Geruchsfährten verfolgen. Wie ein Hund.«
»Ich hab damit nicht gemeint …«
»Vergiss es.«
Er wandte den Blick ab und studierte den Zaun. »Ich nehme an, du hast raus, was ich bin.«
»Ein Werwolf.«
Ich versuchte es leichthin auszusprechen, war mir aber nicht sicher, ob es mir gelungen war. Ich wollte mich nicht verstört oder verängstigt anhören, denn genau das war es, was er von mir erwartete – und das war auch genau der Grund gewesen, warum er mir nicht die Wahrheit gesagt hatte. Ich versuchte mir einzureden, dass das auch nichts anderes war, als eine Nekromantin oder ein Magier oder eine Halbdämonin zu sein. Aber es
war
etwas anderes.
Als sich das Schweigen in die Länge zog, wurde mir klar, dass ich etwas sagen musste. Hätte er mir erzählt, dass er ein Halbdämon war, würde ich ihn jetzt bereits mit Fragen bombardieren, und wenn ich es nicht tat, würde mein Schweigen ihn abwerten – zu etwas, das von uns anderen verschieden war, etwas weniger Natürlichem, etwas … Schlimmerem.
»Was ist … da vorhin also passiert? Du hast, äh …«
»Hab mich gewandelt.« Er tat einen Schritt nach rechts, lehnte sich vor, um besser zu hören, und zog sich wieder in den Schatten zurück. »Es sollte eigentlich nicht anfangen, bevor ich nicht mindestens achtzehn bin. Hat Dad jedenfalls geglaubt. Letzte Nacht, diese Juckerei, das Fieber, die Muskelkrämpfe – das hätte mir eine Warnung sein sollen. Ich hätte drauf kommen müssen.«
Sein Kopf legte sich zur Seite, als ein Luftzug vorbeistrich. Er holte tief Atem und schüttelte dann den Kopf. »Niemand, den ich kenne.« Er zeigte zum hinteren Ende des Gartens hinüber. »Wir klettern über den Zaun da und schlagen einen Bogen. Vielleicht sind sie bis dahin weggefahren.«
Wir brachten den Zaun und den Nachbargarten hastig hinter uns und blieben in der Einfahrt stehen. Derek musterte die Straße, sah sich um, horchte und schnupperte wahrscheinlich auch. Dann winkte er mich auf die andere Seite hinüber. Wir
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