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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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Lyle House war, dann stimmte etwas mit ihr nicht. Irgendeine Art von »psychischem Problem«.
    Sie sah nicht verrückt aus. Ihr langes Haar war zu einem schimmernden Pferdeschwanz zusammengefasst. Sie trug Guess-Jeans und ein T-Shirt von Gap. Hätte ich es nicht besser gewusst, dann hätte ich gedacht, dass ich in einem Internat aufgewacht wäre.
    Sie redete immer noch. Vielleicht war das ein Symptom?
    Andererseits wirkte sie ganz harmlos. Musste sie wohl sein, oder? Sie würden hier ja keine gefährlichen Leute unterbringen. Oder
wirklich
Verrückte.
    O nein, Chloe. Die bringen keine wirklich verrückten Leute hierher. Bloß diejenigen, die Stimmen hören und verbrannte Hausmeister sehen und mit Lehrern kämpfen.
    Mein Magen begann wieder weh zu tun.
    »Komm schon«, sagte sie. »Frühstück fängt in fünf Minuten an, und die können ein bisschen giftig werden, wenn man zu spät kommt.« Liz streckte die Hand aus, als ich eine Kommodenschublade öffnete. »Zum Frühstück kannst du den Schlafanzug anbehalten. Mittagessen und Abendessen haben wir mit den Jungs, aber Frühstück kriegen sie nach uns, wir haben also ein bisschen Privatsphäre.«
    »Jungs?«
    »Simon, Derek und Peter.«
    »Das ist hier gemischt?«
    »Hm.« Sie schob vor dem Spiegel die Lippen vor und kratzte ein loses Hautfetzchen ab. »Das Erdgeschoss gehört uns allen, aber der erste Stock ist unterteilt.«
    Sie lehnte sich durch die Zimmertür hinaus, um mir zu zeigen, wie kurz der Flur war. »Sie haben die andere Hälfte. Es gibt nicht mal eine Verbindungstür. Als ob wir uns nachts rüberschleichen würden, wenn wir könnten.« Sie kicherte. »Na ja, Tori würde. Und ich vielleicht, wenn es da jemanden gäbe, für den sich das Rüberschleichen lohnen würde. Tori hat was mit Simon.« Sie musterte mich im Spiegel. »Peter könntest du mögen. Er ist niedlich, aber viel zu jung für mich. Dreizehn. Fast vierzehn glaube ich.«
    »Ich bin fünfzehn.«
    Sie biss sich auf die Lippe. »Oh, Mist. Na ja, jedenfalls, Peter ist sowieso nicht mehr lang da. Ich habe gehört, er geht demnächst nach Hause.« Sie unterbrach sich. »Fünfzehn, ja? Welche Klasse?«
    »Neunte.«
    »Genau wie Tori. Ich bin in der Zehnten und Simon, Derek und Rae auch. Aber ich glaube, Simon und Rae sind noch fünfzehn. Hab ich eigentlich schon gesagt, dass ich deine Haare toll finde? Ich hab das auch machen wollen, mit blauen Strähnchen, aber meine Mom hat gesagt …«
     
    Liz redete weiter, als wir nach unten gingen und beschrieb mir die ganze Belegschaft. Es gab Dr. Gill, die Psychologin, aber sie kam nur zu ihren Terminen und Sprechstunden ins Haus, ebenso wie die Lehrerin, Ms. Wang.
    Zwei der drei Schwestern hatte ich bereits kennengelernt. Mrs. Talbot, die Ältere, die Liz als »wirklich nett« beschrieb, und die jüngere, Miss Van Dop, die, wie Liz flüsterte, »nicht so nett« war. Die dritte Schwester, Mrs. Abdo, war an den Wochenenden da, damit die beiden anderen sich jeweils einen Tag freinehmen konnten. Sie wohnten im Haus und kümmerten sich um uns. Liz bezeichnete sie als Schwestern, aber in meinen Ohren hörten sie sich eher nach den Hausmüttern an, von denen Internatsschüler erzählten.
    Am Fuß der Treppe wartete ein überwältigender Geruch nach Zitronenputzmittel. Es roch wie bei meiner Oma. Nicht mal Dad wirkte jemals wirklich entspannt im makellosen Haus seiner Mutter. Wie sollte man auch unter dem grimmigen Stieren, das einem mitteilte, dass man zum Geburtstag lieber kein Geldgeschenk erwarten sollte, wenn man Cola-Spritzer auf dem weißen Ledersofa hinterließ. Aber nach einem kurzen Blick in das Wohnzimmer stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus. Es war zwar genauso sauber wie bei meiner Oma – der Teppich war fleckenlos, das Holz glänzte –, aber es hatte etwas leicht Abgenutztes, Wohnliches an sich, das dazu einlud, sich auf dem Sofa zusammenzurollen.
    Auch dieses Zimmer war in der Farbe gestrichen, die man in Lyle House offenbar bevorzugte: ein sehr blasses Gelb. Kissen lagen auf dem dunkelblauen Sofa und den beiden Schaukelstühlen. Eine alte Standuhr tickte in einer Ecke. Auf den Tischchen an den Sofaenden standen Vasen mit Margeriten und Narzissen. Hell und fröhlich. Zu hell und fröhlich sogar, wie in dieser Frühstückspension in der Nähe von New York, in der Tante Lauren und ich im letzten Herbst ein paar Nächte verbracht hatten. Sie hatten dort so verzweifelt versucht, den Laden heimelig zu machen, dass er am Ende mehr von einer

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