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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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stottern.«
    »Mädchen?« Mrs. Talbot spähte um den Türpfosten im Flur herum. »Ihr wisst genau, dass ihr nicht auf der Treppe rumalbern sollt. Jemand könnte sich weh tun. Der Unterricht fängt in zehn Minuten an. Chloe, wir warten noch auf deine Arbeitsmaterialien von deinen Lehrern, du hast heute also noch keinen Unterricht. Wenn du dich angezogen hast, reden wir über deinen Tagesplan.«
     
    Man liebte Tagespläne in Lyle House, etwa so, wie man im Bootcamp die Disziplin liebt.
    Wir standen um 7:30 Uhr auf. Frühstückten, duschten, zogen uns an und saßen um Punkt neun Uhr in unserem Klassenzimmer, wo wir unter der Aufsicht unserer Tutorin Ms. Wang selbständig an den Aufgaben arbeiteten, die unsere Schullehrer schickten. Um 10:30 Uhr hatten wir eine Pause, in der es einen kleinen Imbiss gab. Was Gesundes selbstverständlich. Zurück an die Arbeit. Pause und Mittagessen. Zurück in den Unterricht, 13:00 Uhr bis 16:30 Uhr, unterbrochen durch eine zwanzigminütige Pause um 14:30. Irgendwann während der Unterrichtszeit – der genaue Zeitpunkt wechselte – hatten wir unsere einstündige Einzeltherapiesitzung mit Dr. Gill. Meine erste Sitzung war für diesen Nachmittag unmittelbar nach der Mittagspause angesetzt. Von halb fünf bis sechs Uhr nachmittags hatten wir frei … gewissermaßen. Denn neben dem Unterricht und der Therapie gab es auch noch die Hausarbeit. Eine ganze Menge sogar, der Liste nach zu urteilen. Sie musste in der Freizeit vor und nach dem Abendessen erledigt werden. Außerdem mussten wir jeden Tag noch eine halbe Stunde Sport machen. Nach einer weiteren kleinen Mahlzeit ging man um neun Uhr abends ins Bett, und die Lichter mussten um zehn Uhr aus sein.
    Gesunde kleine Zwischenmahlzeiten? Therapiesitzungen? Hausarbeitenliste? Pflichtsport? Schlafenszeit um neun?
    Das Bootcamp begann in meinen Augen ausgesprochen attraktiv auszusehen.
    Ich gehörte nicht hierher. Wirklich nicht.
     
    Nach unserer Unterhaltung stürzte Mrs. Talbot davon, weil das Telefon klingelte, wobei sie mir über die Schulter noch versprach, gleich mit meiner Aufgabenliste zurückzukommen. Na super.
    Ich saß im Wohnzimmer und versuchte nachzudenken, aber die gnadenlos versprühte Fröhlichkeit wirkte wie ein Scheinwerfer, der mir in die Augen leuchtete und mir das Konzentrieren schwermachte. Ein paar Tage mit dieser gelben Farbe und den Margeriten, und ich würde zu einem glücklichen Zombie werden, so wie Liz.
    Ich spürte einen Stich der Scham. Liz hatte dafür gesorgt, dass ich mich willkommen fühlte, und mich ihrer Freundin gegenüber verteidigt. Wenn Fröhlichkeit eine Geisteskrankheit war, dann konnte ich mir Schlimmeres vorstellen. Es war mit Sicherheit besser, als halb verbrannte Leute zu sehen.
    Ich rieb mir den Nacken und schloss die Augen.
    Lyle House war schließlich gar nicht so übel. Besser als gepolsterte Wände und endlose Gänge voll
echter
Zombies, herumschlurfende Psychiatriepatienten, die so mit Medikamenten vollgepumpt waren, dass sie sich nicht mehr die Mühe machten, sich anzuziehen, vom Duschen gar nicht zu reden. Vielleicht war es die Illusion von einem Zuhause, die mich störte. Vielleicht wäre ich in mancher Hinsicht mit hässlichen Sofas, weißen Wänden und vergitterten Fenstern glücklicher gewesen, weil man mir dann wenigstens keine falschen Versprechungen gemacht hätte. Aber dass ich keine Gitterstäbe sehen konnte, bedeutete nicht, dass hier alles so offen war, wie es wirkte. Konnte es gar nicht sein.
    Ich ging zum vorderen Fenster. Geschlossen, trotz des sonnigen Tages. Im Rahmen war ein Loch, wahrscheinlich da, wo einmal der Griff zum Öffnen gewesen war. Ich sah hinaus. Jede Menge Bäume, eine ruhige Straße, weitere alte Häuser auf großen Grundstücken. Keine Elektrozäune. Kein Schild auf dem Rasen, auf dem hätte stehen können LYLE HOUSE FÜR VERRÜCKTE TEENAGER . Es sah alles ganz normal aus, aber ich hatte den Verdacht, wenn ich jetzt einen Stuhl packte und gegen die Fensterscheibe schmetterte, würde irgendwo eine Alarmanlage losgehen.
    Wo also war die Alarmanlage?
    Ich ging in den Flur hinaus, sah zur Haustür hin, und richtig, da war sie und blinkte vor sich hin. Kein Versuch, sie zu verstecken. Als Gedächtnisstütze, nehme ich an. Dies sieht vielleicht aus wie dein Haus, aber versuch nicht, einfach zur Haustür rauszugehen.
    Und wie sah es hinten aus?
    Ich ging ins Esszimmer und sah zum Fenster hinaus in einen großen Garten, in dem genauso viele Bäume standen wie

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