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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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Satz nach hinten. Die Karotte sprang mir aus der Hand und prallte von seinem Arm ab. Einem echten Arm. Der zu einem echten Jungen gehörte.
    »Ich-ich …«
    Er legte einen Finger auf die Lippen und zeigte zur Esszimmertür hinüber. Im Nebenraum redete Mrs. Talbot mit Liz.
    »Ich hab hier im Moment eigentlich nichts verloren«, flüsterte er. »Übrigens, ich bin Simon.«
    Mit einem Mal wurde mir klar, dass er zwischen mir und dem Ausgang stand. Sein Lächeln war nett, und er war entschieden niedlich, aber
niedlich
reicht nicht, wenn ein Typ einen in einer betreuten Wohngruppe in die Ecke drängt.
    Er schob sich rückwärts bis an die Tür der Speisekammer, hob einen Finger, um mir mitzuteilen, ich sollte warten, und verschwand im Inneren. Ich konnte hören, wie er die Regale absuchte. Als ich einen Blick zu ihm hineinwarf, nahm er gerade eine Schachtel Kekse vom Brett.
    Ein Beutezug in der Küche? Ich konnte mir das Lächeln nicht verkneifen. Wahrscheinlich kam es nicht drauf an, ob es jetzt eine betreute Wohngruppe war oder ein Sommerlager, bei Jungen und ihren Mägen änderte sich nichts. Simon zog eine ungeöffnete Teilpackung Kekse aus der Schachtel.
    »Die andere ist schon offen«, flüsterte ich, während ich darauf zeigte.
    »Danke, aber er wird eine Ganze haben wollen. Stimmt’s, Bro?«
    Ich folgte seinem Blick über meine Schulter nach hinten und stieß einen Schrei aus. Der Typ, der hinter mir stand, musste mindestens eins achtzig groß sein und hatte Schultern, die so breit wie der Türrahmen waren. Obwohl er die Größe eines Erwachsenen hatte, würde man ihn nie für einen halten. Sein Gesicht hätte man für die »Vorher«-Aufnahme in einer Werbung für Aknecreme verwenden können. Dunkles Haar hing ihm schlaff und glanzlos in die Augen.
    »Ich-ich-ich …« Ich schluckte. »Ich hab dich gar nicht gesehen.«
    Er griff an mir vorbei und nahm die Kekse entgegen. Als er den Rückzug antrat, packte Simon ihn am Rückenteil seines T-Shirts.
    »Wir sind noch dabei, ihm Manieren beizubringen«, sagte er zu mir. »Derek, Chloe. Chloe, mein Bruder Derek.«
    »Bruder?«, wiederholte ich.
    »Yeah.« Dereks Stimme war ein leises dunkles Grollen. »Eineiige Zwillinge.«
    »Er ist mein Pflegebruder«, sagte Simon. »Und ich wollte Chloe gerade erzählen …«
    »Sind wir hier fertig?«, fragte Derek.
    Simon scheuchte ihn mit einer Handbewegung davon und verdrehte die Augen. »Tut mir leid. Jedenfalls, ich wollte gerade sagen, willkommen …«
    »Simon?« Toris Stimme hallte durch die Küche. »Ah. Dachte ich mir doch, dass ich dich gehört habe.« Ihre Finger schlossen sich um die Kante der Speisekammertür. »Du und Derek, immer am …«
    Dann entdeckte sie mich, und ihre Augen wurden schmal.
    »Tori?«, sagte Simon.
    Ihr Ausdruck änderte sich schlagartig. Von einschüchternd zu einschmeichelnd. »Ja?«
    Er zeigte mit einem Finger in Richtung Esszimmertür. »Pssst!«
    Während sie Entschuldigungen zu stammeln begann, trat ich den Rückzug an.
     
    Als ich mit den Karotten fertig war, teilte Mrs. Talbot mir mit, ich könnte mir jetzt bis zum Mittagessen freinehmen, und zeigte mir das Medienzimmer. Wenn ich jetzt auf einen Breitbildfernseher mit Dolby-Surround-Anlage und einen erstklassigen Computer gehofft hatte, dann hatte ich Pech gehabt. Es gab einen Zwanzig-Zoll-Fernseher, einen billigen kombinierten Video- DVD -Player, eine alte Xbox und einen noch älteren Computer. Ein kurzer Blick auf das Filmangebot, und mir war klar, dass ich nicht allzu viel Zeit hier verbringen würde. Es sei denn, ich sollte plötzlich eine nostalgische Vorliebe für die Olsen-Zwillinge entwickeln. Der einzige Film mit einer Altersbeschränkung war
Jurassic Park
, und auf der Hülle stand »Vor dem Ansehen bitte fragen« – als müsste ich meinen Schülerausweis vorzeigen, um zu beweisen, dass ich über zwölf war.
    Ich schaltete den Computer ein. Er brauchte zum Hochfahren fünf Minuten. Windows 98. Ich verbrachte weitere fünf Minuten damit, mir ins Gedächtnis zu rufen, wie man mit Windows arbeitete. An der Schule hatten wir Macs, und ich hatte diese Tatsache genutzt, um Dad schließlich doch noch zu überreden, dass er mir einen Apple-Laptop kaufte – mit den Profi-Filmbearbeitungsprogrammen drauf.
    Dann suchte ich nach einem Browser. Ich hoffte auf Firefox, bekam aber nichts Besseres als den guten alten Internet Explorer. Ich gab eine URL ein und wartete mit angehaltenem Atem auf die

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