Schattenstunde
ihr mal eine, vielleicht kriegt sie dann einen Neustart hin.«
Simon starrte sie wütend an. »Musst du so widerlich sein, Tori?«
Sie erstarrte mit aufgerissenem Mund, ein Bild entsetzter Demütigung. Derek widmete sich wieder seinem Mittagessen.
»So hab ich’s nicht gemeint«, sagte Tori, ihre Worte überstürzten sich nun fast. »Wie Peter sagt, es ist irgendwie cool. Wenn sie wirklich Geister sieht, kann sie Liz vielleicht mit ihrem, ihr wisst schon, Poltergeist helfen.«
»Tori!«, schrie Liz, während sie die Gabel fallen ließ.
»Nächste Runde«, knurrte Derek.
Liz’ Augen füllten sich mit Tränen. Ihre Stuhlbeine quietschten, als sie den Stuhl nach hinten stieß. Tori flüchtete sich in eine stammelnde Entschuldigung. Simon packte Liz’ Glas, bevor sie es umstoßen konnte. Peter beugte sich tiefer über sein Spiel. Derek nutzte das Chaos, um sich den restlichen Auflauf auf den Teller zu schaufeln.
Die Küchentür flog auf, und Mrs. Talbot erschien. Was sie sagte, ging im Lärm unter.
Rae tauchte in der anderen Tür auf, einen Korb mit Wäsche in den Händen.
»Letzter Aufruf«, formte sie mit den Lippen. »Hat irgendjemand noch was zu waschen?«
Niemand außer mir bemerkte sie, ganz zu schweigen davon, dass man sie verstanden hätte. Ich sah mich um und stellte fest, dass es in dem Durcheinander nicht weiter auffallen würde, wenn ich ging. Also tat ich es.
Sie wussten Bescheid. Jeder hier wusste Bescheid.
Ich war eine Irre. Eine Verrückte, die Geister sah. Ich gehörte hierher.
Das Mittagessen rumorte in meinem Magen. Ich rannte die Treppe hinauf und dachte nur an mein Bett mit der dünnen Matratze, die nach chemischem Vanilleduft roch und mir plötzlich so einladend vorkam. Ich konnte die Jalousien herunterlassen, mich mit meinem iPod unter der Decke zusammenrollen und vergessen.
»Kann ich dir helfen, Chloe?«
Zwei Stufen vom oberen Ende entfernt blieb ich stehen und drehte mich um. Am Fuß der Treppe stand Miss Van Dop.
»Ich … ich wollte mich einfach einen Moment hinlegen. Mir tut der Kopf weh, und …«
»Dann komm runter und nimm eine Tylenol.«
»Ich … ich bin ein bisschen müde. Ich habe keinen Unterricht, also hab ich gedacht …«
»Komm runter, Chloe.«
Sie wartete, bis ich sie fast erreicht hatte, bevor sie sagte: »In Lyle House sind Schlafzimmer zum Schlafen da.«
»Ich …«
»Ich weiß, du bist wahrscheinlich müde und fühlst dich überfahren, aber du brauchst Aktivität und Kontakt, keine Isolation. Rae fängt vor dem Nachmittagsunterricht schon mal mit der Wäsche an. Wenn du mit dem Mittagessen fertig bist, kannst du ihr ja helfen.«
Ich wappnete mich, als ich die Kellertür öffnete, denn ich erwartete eine knarrende Holztreppe, die in einen finsteren, muffigen Kellerraum führte – die Sorte von Ort, die ich hasste. Stattdessen sah ich glänzend saubere Stufen, einen hell erleuchteten Gang, blassgrün gestrichene Wände mit einer Blumenbordüre. Zum ersten Mal an diesem Tag war ich froh über die aufdringliche Fröhlichkeit.
Im Waschkeller gab es einen Fliesenboden, einen alten Sessel, eine Waschmaschine, einen Wäschetrockner und ein paar Schränke und Regale. Der Alter-Keller-Gruselfaktor war gleich null.
Die Waschmaschine lief, aber von Rae keine Spur.
Ich sah mich im Raum um und zu einer geschlossenen Tür hinüber. Als ich auf sie zuging, stieg mir ein beißender Geruch in die Nase.
Rauch?
Wenn Rae hier unten rauchte, würde ich nicht diejenige sein, die sie dabei erwischte. Ich drehte mich um und wollte schon nach oben gehen, als ich Rae entdeckte. Sie hatte sich in die Lücke zwischen den beiden hohen Regalen gequetscht.
Ihre Lippen formten einen lautlosen Fluch, als sie die Hand schüttelte und ein Streichholz löschte. Ich hielt Ausschau nach einer Zigarette. Es gab keine. Nur das glimmende Streichholz.
In Gedanken hörte ich Liz’ Stimme sagen:
Sie steht auf Feuer.
Man musste mir meine Fluchtgedanken angesehen haben, denn Rae machte einen Satz vorwärts, zwischen mich und die Tür, und hob beide Hände.
»Nein, nein, so ist das nicht. Ich habe nichts vorgehabt. Ich lege …«, sie wurde langsamer, als sie sah, dass ich zuhörte, »… ich lege keine Brände. Die würden mich hier nicht bleiben lassen, wenn ich’s täte. Du kannst jeden fragen. Ich mag Feuer einfach.«
»Oh.«
Sie merkte, dass ich die Streichholzschachtel anstarrte, und steckte sie ein.
»Ich, äh, ich hab gesehen, dass du das Mittagessen verpasst
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