Schattenstunde
in dem keine von uns sich bewegte. Dann nahm sie mir eine blaue Socke, die ich die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, ab und schwenkte sie vor meinen Augen herum.
»Oops.« Mir war nicht einmal klar gewesen, dass ich sie in der Hand gehalten hatte.
Sie legte das blaue Paar zusammen und warf die rote Einzelsocke unter Toris Bett. »Fertig. Müsste bald Zeit für den Film sein.« Sie legte einen Wäschestapel in ihren Korb. »Du hast gemerkt, wie schnell Simon sich vorm Filmegucken gedrückt hat? Richtige Gelehrte, die beiden. Alles, damit sie nicht mit den verrückten Kids rumhängen müssen.«
»Den Eindruck hab ich auch gehabt. Simon wirkt nett, aber …«
Sie schob mir einen Korb hin und nahm den anderen. »Der ist genauso eine Diva wie Tori. Sie würden ein tolles Paar abgeben. Derek ist vielleicht ein Arschloch, aber er ist wenigstens ehrlich. Simon tut nett, weil er den Tag mit uns verbringen muss, aber sobald er mit seinem Bruder verschwinden kann, ist er weg. Tut so, als gehörte er nicht hierher. Als hätte er keine Probleme, und das Ganze wäre einfach ein Riesenirrtum.«
»Warum ist er denn dann hier?«
»Glaub mir, das wüsste ich auch gern. Bei ihm und Derek. Simon hat nie Therapiestunden, aber Derek hat mehr als irgendwer sonst. Keiner kommt sie je besuchen, aber manchmal haben sie’s von ihrem Dad. Simons Dad, glaube ich. Wenn der so toll ist, warum hat er sie hier abgeladen und ist verschwunden? Und wie kommt es, dass zwei Typen aus derselben Familie, die aber keine leiblichen Brüder sind, beide diese Sorte Probleme haben? Mann, würde ich gern mal ihre Akten sehen.«
Ich würde lügen, wenn ich jetzt behauptete, dass ich bei Simon nicht auch neugierig gewesen wäre. Und vielleicht auch bei Derek, und wenn es nur wäre, weil ich das Gefühl hatte, ich könnte gegen ihn etwas Munition brauchen. Aber ich hätte nicht gewollt, dass irgendwer
meine
Akte las, und so würde ich Rae auch nicht helfen, die Akten dieser beiden zu lesen.
»Aber heute Abend könnte wir sowieso nicht riskieren, mal reinzusehen«, sagte sie. »Bei dem, was da mit Liz los ist, werden die schon vorsichtig genug sein. Ich will hier nicht rausfliegen, weil ich die Neue korrumpiert habe.«
»Vielleicht würden sie ja mich rauswerfen, weil ich dich korrumpiere.«
Sie sah mein Grinsen und lachte. »Oh, yeah, du bist eine von den ganz Gefährlichen. Sieht man dir sofort an.«
Sie scheuchte mich aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter uns.
9
I ch bin nicht sonderlich scharf auf romantische Komödien. Das hört sich vielleicht genauso unglaubwürdig an, wie wenn ein Typ zugibt, dass er nicht auf Autoverfolgungsjagden steht, aber auch Rae schien ein paarmal einzudösen. Sie hätte sich diesen Film wahrscheinlich auch nicht ausgesucht.
Ich hielt mich damit wach, dass ich die Handlung analysierte. Sie war so rettungslos vorhersehbar, dass ich mein College-Konto darauf verwettet hätte, dass sie nach den Leitlinien des Drehbuchgurus Robert McKee entstanden sein musste.
Aber während ich den albernen Film verfolgte und Popcorn in mich hineinstopfte, konnte ich mich endlich doch noch entspannen. Mit Rae zu reden hatte wirklich geholfen. Sie hielt mich nicht für verrückt. Sie hielt mich nicht mal für schizophren.
Zum ersten Mal seit meinem Zusammenbruch kam mir die Situation gar nicht so übel vor. Vielleicht war mein früheres Leben ja doch nicht in diesem Klassenzimmer zu Ende gegangen. Vielleicht hatte ich einfach überreagiert und sah alles dramatischer, als es war.
Wussten die Kids an der Schule wirklich, was mit mir passiert war? Ein paar hatten mich den Gang entlangrennen sehen. Mehr als ein paar hatten gesehen, wie ich bewusstlos auf einer Bahre weggetragen wurde. Na, wenn das alles war. Ich würde in ein paar Wochen zurückkehren, und die meisten würden wahrscheinlich kaum bemerkt haben, dass ich gefehlt hatte.
Morgen würde ich Kari eine E-Mail schicken, ihr einfach mitteilen, dass ich krank war, und warten, was sie daraufhin sagen würde. Wahrscheinlich würde es genau das sein, was sie gehört hatte: dass ich Drüsenfieber oder irgendwas in dieser Art hatte.
Ich würde das durchstehen. Ganz gleich, was ich von ihrer Diagnose hielt, es war nicht der richtige Zeitpunkt zum Streiten. Ich würde meine Pillen nehmen, lügen, wenn ich musste, aus Lyle House entlassen werden und mit meinem Leben weitermachen.
»Chloe? Chloe?«
Liz’ Stimme hallte in den Höhlen meiner Traumwelt, und ich brauchte ein paar
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