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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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Minuten, um den Weg in die Realität zu finden. Als ich die Augen öffnete, beugte sie sich über mich. Ihr Zahnpastaatem spülte über mich hinweg, ihr langes Haar kitzelte mich an der Wange. Die Hand, mit der sie meinen Arm umklammerte, zitterte selbst dann noch, als sie aufgehört hatte, mich zu schütteln.
    Ich stemmte mich auf die Ellbogen hoch. »Was ist denn los?«
    »Ich hab jetzt seit Stunden dagelegen und versucht, mir irgendwas einfallen zu lassen, wie ich dich fragen kann. Irgendwas, das nicht komplett verrückt klingt. Aber ich kann nicht. Mir fällt einfach nichts ein.«
    Sie wich zurück. Ihr bleiches Gesicht schimmerte in der Dunkelheit, ihre Hände zerrten am Kragen ihres Nachthemds, als ließe er ihr nicht genug Platz zum Atmen.
    Ich setzte mich auf. »Liz?«
    »Die wollen mich wegschicken. Jeder weiß das, und deswegen sind sie alle so nett zu mir. Ich will nicht weggehen, Chloe. Sie werden mich einsperren, und …« Sie atmete tief und mühsam ein, die Hände über den Mund gepresst. Die Augen, mit denen sie mich anstarrte, waren so weit aufgerissen, dass ich rings um die dunkle Iris das Weiß der Augäpfel sah. »Ich weiß, du bist noch nicht lang hier, aber ich brauche wirklich deine Hilfe.«
    »Okay.«
    »Wirklich?«
    Ich verschluckte ein Gähnen, während ich die Füße auf den Boden stellte. »Wenn es da etwas gibt, das ich tun kann …«
    »Gibt es. Danke. Danke.« Sie fiel auf die Knie und zerrte eine Tasche unter dem Bett hervor. »Ich weiß nicht, was du alles brauchst, aber wir haben eine gemacht, als ich letztes Jahr bei einer Freundin übernachtet habe. Also hab ich alles besorgt, was wir damals verwendet haben. Ich hab ein Glas, ein paar Kräuter, eine Kerze …« Ihre Hand flog zum Mund. »Streichhölzer! Oh, nein. Wir haben keine Streichhölzer. Die schließen sie immer weg, wegen Rae. Können wir es auch machen, ohne die Kerze anzuzünden?«
    »Was machen?« Ich rieb mir mit beiden Händen übers Gesicht. Ich hatte keine Schlaftablette genommen, aber ich fühlte mich immer noch merkwürdig benebelt, als versuchte ich durch ein Meer von Wattebällchen zu schwimmen. »Was genau machen wir eigentlich, Liz?«
    »Eine Séance natürlich.«
    Die Schläfrigkeit verflog augenblicklich, und ich fragte mich, ob sie mir einen Streich zu spielen versuchte. Aber ihrem Gesichtsausdruck merkte ich an, dass es nicht so war. Toris Worte beim Abendessen fielen mir wieder ein.
    »Der … Poltergeist?«, fragte ich vorsichtig.
    Sie stürzte sich auf mich, so unvermittelte, dass ich gegen die Wand knallte und beide Arme hochriss, um sie abzuwehren. Aber sie ließ sich lediglich neben mich aufs Bett fallen. Ihre Augen waren wild.
    »Ja!«, sagte sie. »Ich hab einen Poltergeist. Es ist so offensichtlich, aber die wollen es einfach nicht sehen. Sie sagen dauernd, ich bin es, die dieses ganze Zeug macht. Aber wie hätte ich einen Bleistift so scharf werfen können? Hat irgendwer gesehen, dass ich ihn geworfen habe? Nein. Ich war wütend auf Ms. Wang, und der Bleistift ist geflogen und hat sie getroffen, und jetzt heißt es ›Oh, Liz war’s‹, aber ich war’s nicht. Ich war es nie.«
    »Es war der … Poltergeist?«
    »Ja. Ich glaube, er versucht mich zu schützen, denn jedes Mal, wenn ich wütend werde, fliegt irgendwas durch die Gegend. Ich habe versucht, mit ihm zu reden, ihm zu sagen, dass er aufhören soll. Aber er kann mich nicht hören, weil ich nicht mit Geistern reden kann. Deswegen brauche ich dich.«
    Ich gab mir große Mühe, meinen Gesichtsausdruck nichtssagend zu halten. Ich hatte einmal eine Dokumentation über Poltergeistaktivitäten gesehen. Meistens passierte es wirklich bei Leuten wie Liz, Teenagern mit Schwierigkeiten, die sich verzweifelt Aufmerksamkeit wünschten. Manche Leute glaubten, die Mädchen spielten die Streiche selbst. Andere vermuteten, die von ihnen abgegebene Energie – Hormone und aufgestaute Wut – könne tatsächlich Dinge bewegen.
    »Du glaubst mir nicht«, sagte sie.
    »Nein, ich habe nicht gesagt …«
    »Du
glaubst
mir nicht!« Sie richtete sich auf die Knie auf, ihre Augen flammten. »Niemand glaubt mir!«
    »Liz, ich …«
    Hinter ihr begannen die Tuben mit Haargel zu zittern. Im Schrank klapperten leere Kleiderbügel. Ich grub die Finger in die Matratze.
    »O-o-okay, Liz. Ich verstehe …«
    »Nein,
tust du nicht!
«
    Sie schlug mit beiden Händen auf die Matratze. Die Tuben jagten in die Luft und krachten mit so viel Wucht gegen die Decke, dass

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