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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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sich ablenken zu lassen. »Hat er dich angefasst?«
    »N-nein, n-natürlich nicht.«
    »Chloe.« Ihre Stimme wurde schärfer, als mein Gestotter mich verriet. »Das ist nichts, was du verschweigen solltest. Wenn er irgendwas Unangebrachtes getan hat, dann schwöre ich …«
    »So war das nicht. Wir haben geredet, ich habe weggehen wollen, und er hat mich am Arm gepackt …«
    »Er hat dich
gepackt?
«
    »Vielleicht eine Sekunde lang! Ich hab einfach einen Schreck gekriegt. Total überreagiert.«
    Sie beugte sich vor. »Du hast nicht überreagiert. Wann immer dich jemand ohne deine Zustimmung berührt, ist es dein gutes Recht, dich zu wehren oder zu beschweren und …«
    Und so ging es weiter, während des gesamten restlichen Frühstücks. Eine Predigt über »unerwünschte Berührungen«, als wäre ich fünf Jahre alt. Ich verstand gar nicht, warum sie sich so aufregte. Schließlich hatte ich ihr die blauen Flecken noch nicht mal gezeigt. Aber je mehr ich widersprach, desto mehr geriet sie in Fahrt, und irgendwann kam mir der Gedanke, dass es hier vielleicht gar nicht um die Frage ging, ob ein Junge mich am Arm gepackt hatte oder nicht. Sie war wütend auf meinen Dad, weil er wieder abgereist war, und auf meine Schule, weil man dort darauf bestanden hatte, dass ich dieses Heim besuchte. Und weil sie keine Möglichkeit hatte, sich mit einem von ihnen anzulegen, hatte sie nun endlich jemanden gefunden, mit dem sie sich anlegen
konnte
, wenigstens ein Problem, das sie für mich in Ordnung bringen konnte.
     
    »Bitte mach’s nicht«, sagte ich, als wir mit laufendem Motor in der Einfahrt von Lyle House standen. »Er hat gar nichts
getan
. Bitte. Es ist schon schwierig genug.«
    »Weshalb ich auch nicht vorhabe, es dir noch schwieriger zu machen, Chloe. Es ist ja nicht so, dass ich dir noch mehr Scherereien bereiten will, ich will den Ärger für dich schlichten.« Sie lächelte. »Präventivmedizin.«
    Sie tätschelte mir das Knie. Als ich zum Autofenster hinaussah, seufzte sie und stellte den Motor ab. »Ich verspreche dir, ich werde es diskret machen. Ich habe gelernt, solche Probleme mit Vorsicht anzugehen. Das Letzte, was das Opfer braucht, ist es, des Petzens beschuldigt zu werden.«
    »Ich bin aber kein Op…«
    »Dieser Derek wird nie herausfinden, wer sich beschwert hat. Nicht mal die Schwestern werden wissen, dass du auch nur ein Wort über ihn gesagt hat. Ich werde sorgfältig Bedenken äußern, und zwar auf der Grundlage meiner eigenen Beobachtungen.«
    »Gib mir einfach noch ein paar Tage …«
    »Nein, Chloe«, sagte sie fest. »Ich rede mit den Schwestern und wenn nötig auch mit der Hausleitung. Es wäre unverantwortlich, es nicht zu tun.«
    Ich wandte mich ihr zu und öffnete den Mund, um zu antworten, aber sie war bereits ausgestiegen.
     
    Bei meiner Rückkehr war auch Tori wieder da. Sowohl wieder im Klassenzimmer als auch wieder ganz die Alte.
    Hätte ich für diese Szene das Drehbuch schreiben sollen, dann hätte ich es wahrscheinlich auf eine innere Wandlung hin angelegt. Die junge Frau hat miterlebt, wie ihr ihre einzige Freundin genommen wurde, teilweise wegen einer gehässigen Bemerkung, die sie selbst ausgesprochen hat. Als ihre Mitbewohner sich alle Mühe geben, ihr mit Freundlichkeit und Mitgefühl darüber hinwegzuhelfen, stellt sie fest, dass sie vielleicht doch nicht die einzige Freundin verloren hat, und beschließt ihrerseits, ein netterer, freundlicherer Mensch zu werden.
    Aber im wirklichen Leben machen die Leute über Nacht keine Wandlung durch.
    Tori leitete die erste Unterrichtsstunde damit ein, mich darüber zu informieren, dass ich auf Liz’ Platz saß und mich lieber nicht aufführen sollte, als würde sie nicht zurückkommen. Danach folgte sie Rae und mir in den Gang hinaus.
    »Und, war’s ein nettes Frühstück mit deiner Tante? Deine Eltern haben wohl zu viel zu tun, um Zeit für dich zu haben, oder?«
    »Ich bin sicher, Mom hätte die Zeit investiert. Aber es ist ein bisschen schwierig, wenn man tot ist und so.«
    Eine filmreife Antwort, fand ich, die die Sache eigentlich hätte erledigen sollen. Aber Tori zuckte nicht einmal mit der Wimper.
    »Was hast du denn geleistet, um jetzt schon Ausgang zu kriegen? War das die Belohnung dafür, dass du ihnen geholfen hast, Liz abzuschieben?«
    »Sie hat ihnen nicht …«, begann Rae.
    »Als ob du besser wärst, Rachelle. Liz’ Bett war noch nicht kalt, da bist du schon zu deiner neuen besten Freundin gezogen. Okay, Chloe,

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