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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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oder Mrs. Talbot – brauchte eine Ewigkeit. Als ich endlich die Toilettenspülung hörte, war Rae eingeschlafen. Ich wartete noch ein paar Minuten, dann schaltete ich die Taschenlampe wieder ein und las.
    Mit jedem Satz wurde der Knoten von Furcht in meiner Magengrube größer. Eine antisoziale Persönlichkeitsstörung hatte nichts mit Unfreundlichkeit zu tun. Die Diagnose beschrieb jemanden, der keinerlei Rücksicht auf andere Leute nahm, dem die Fähigkeit fehlte, sich in andere hineinzuversetzen. Charakteristisch für die Persönlichkeitsstörung waren Wutanfälle und eine Veranlagung zur Gewalttätigkeit, was die Sache nur noch schlimmer machte. Wenn man nicht begriff, dass man jemandem weh tat – was sollte einen dann zum Aufhören bewegen?
    Ich ging zum zweiten Blatt über, das die Überschrift »Hintergrund« trug:
     
    Die Überprüfung des persönlichen Hintergrundes hat sich bei DS als ungewöhnlich schwierig erwiesen. Weder eine Geburtsurkunde noch andere zur Identifikation geeignete Dokumente waren aufzufinden. Vermutlich existieren solche Unterlagen, aber der Mangel an konkreten Informationen über DS s erste Lebensjahre machen eine gezielte Suche unmöglich. DS selbst und seinem Pflegebruder SB zufolge wurde DS im Alter von ungefähr fünf Jahren in die Familie aufgenommen. DS kann sich an Einzelheiten seines Lebens vor diesem Zeitpunkt entweder nicht erinnern, oder er ist nicht bereit, über sie zu sprechen, wobei seine Antworten die Möglichkeit nahelegen, dass er in einem Heim oder einer vergleichbaren Institution untergebracht war.
    Simons Vater Christopher Bae scheint DS auf eigenen Entschluss als Pflegesohn ins Haus genommen zu haben. Eine offizielle Adoption oder ein Pflegefamilien-Arrangement ist nirgendwo dokumentiert. Die beiden Jungen wurden an ihren Schulen als »Simon Kim« und »Derek Brown« eingeschrieben. Der Grund für die Angabe falscher Namen ist nicht bekannt.
    Die von den Schulen beigebrachten Unterlagen lassen vermuten, dass DS s Verhaltensprobleme in der siebten Klasse begannen. Er war nie ein geselliges oder fröhliches Kind gewesen, wurde um diese Zeit aber zunehmend mürrischer und verschlossener. Sein Rückzug ins Einzelgängertum war zudem geprägt von Anfällen grundloser Wut, die oft in Gewaltausbrüchen gipfelten.
     
    Gewaltausbrüche?
    Die blauen Flecken an meinem Arm pochten, und als ich die Stelle gedankenverloren rieb, zuckte ich zusammen.
     
    Keiner dieser Zwischenfälle wurde systematisch dokumentiert, was eine vollständige forensische Untersuchung des Fortschreitens der Störung unmöglich macht. DS scheint einen Schulverweis und andere schwerwiegende disziplinarische Maßnahmen vermieden zu haben, bis es zu einem Zwischenfall kam, der von Zeugen als eine »gewöhnliche Schulhofschlägerei« beschrieben wurde. DS griff drei Jugendliche körperlich an. Die mit dem Fall betrauten Beamten vermuteten einen hormonell bedingten Wutanfall. Ein Adrenalinstoß könnte auch die von Zeugen bei DS beobachtete außergewöhnliche Körperkraft erklären. Als der Sicherheitsdienst einschritt, hatte einer der Angegriffenen bereits Wirbelsäulenschäden erlitten. Ein Experte äußerte die Befürchtung, dass er die Gehfähigkeit nicht wiedererlangen wird.
     
    Die eng formatierte Hintergrundinformation ging noch weiter, aber die Worte verschwammen vor meinen Augen, und alles, was ich jetzt noch sah, war der vor meinen Augen vorbeischießende Fußboden, als Derek mich quer durch den Waschmaschinenraum geschleudert hatte.
    Außergewöhnliche Körperkraft.
    Gewaltausbrüche.
    Gehfähigkeit nicht wiedererlangen.
    Sie hatten Liz weggebracht, weil sie mit Bleistiften und Haargeltuben warf, und Derek ließen sie bleiben? Einen riesigen Typ mit einer Vergangenheit, in der es zu Wutanfällen und Gewaltausbrüchen gekommen war? Mit einer Persönlichkeitsstörung, die es mit sich brachte, dass es ihm egal war, wen er verletzte und wie übel er ihn verletzte?
    Warum hatte mich niemand gewarnt?
    Warum war er nicht hinter Schloss und Riegel?
    Ich schob die Kopien unter meine Matratze. Ich brauchte den Rest gar nicht mehr zu lesen. Ich wusste schon jetzt, was da stand. Dass er Medikamente bekam. Dass er rehabilitiert wurde. Dass er kooperierte und während seines Aufenthalts in Lyle House keinerlei Anzeichen von Gewalttätigkeit hatte erkennen lassen. Dass er sein Problem unter Kontrolle hatte.
    Ich richtete das Licht der Taschenlampe auf meinen Arm. Die Abdrücke färbten sich inzwischen

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