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Schattenstunde

Schattenstunde

Titel: Schattenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kelley Armstrong
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heransummten, um einen Blick auf das Angebot zu werfen. Alles Lebenserfahrung. Man konnte schließlich nicht wissen, wann ich einmal eine entscheidende Szene brauchen würde, in der die Heldin eine Mülltonne durch die Gegend zerrt.
    Ich hörte mein Auflachen durch den Garten flattern. Die Sonne schien, ich spürte die Wärme im Gesicht. Bäume und Narzissen blühten, und der Geruch nach frisch gemähtem Gras kam beinahe gegen den Gestank von verrottendem Müll an.
    Kein schlechter Auftakt für den Nachmittag. Besser, als ich erwartet hatte.
    Ich unterbrach meinen Gedankengang. Denn in dem Garten hinter unserem war ein Geist. Ein kleines Mädchen, nicht älter als vier Jahre.
    Sie musste ein Geist sein. Sie war allein und spielte in einem volantbesetzten Kleid, das etwas von einer Hochzeitstorte hatte – nichts als Schleifen und Bänder – vor sich hin. Weitere Bänder waren in ihre Korkenzieherlocken geflochten, und noch mehr Schleifen schmückten ihre glänzenden Lederschuhe. Sie sah aus wie Shirley Temple auf einem alten Filmplakat.
    Ich warf die Mülltüten in den Schuppen, wo sie vor neugierigen Waschbären und Stinktieren sicher sein würden. Mit einem dumpfen Geräusch schlugen die Tüten auf dem Bretterboden auf, aber das Mädchen, keine sechs Meter entfernt, sah nicht auf. Ich schloss die Tür des Schuppens, lief auf seiner Rückseite bis zum Gartenzaun und ging dort in die Hocke, bis ich auf gleicher Augenhöhe mit dem Mädchen war.
    »Hallo«, sagte ich.
    Sie runzelte die Stirn, als fragte sie sich, mit wem ich redete.
    Ich lächelte. »Ja, ich kann dich sehen. Das ist ein schönes Kleid. Ich hatte auch mal so eins, als ich so alt war wie du.«
    Ein letzter zögernder Blick über die Schulter, dann kam sie näher. »Mommy hat’s mir gekauft.«
    »Meine hat meins damals auch gekauft. Gefällt es dir?«
    Sie nickte, während ein Lächeln ihre dunklen Augen aufleuchten ließ.
    »Das wundert mich nicht. Ich hab meins auch geliebt. Und …«
    »Amanda!«
    Das Mädchen machte einen Satz rückwärts, landete auf dem Hintern und fing an zu heulen. Eine Frau in Hosen und Ledermantel kam angerannt, ein Schlüsselbund klirrte in ihrer Hand, die Hintertür des Hauses fiel hinter ihr zu.
    »Oh, Amanda, du hast dein hübsches Kleid ganz schmutzig gemacht. Jetzt werden wir den Fototermin verlegen müssen.« Die Frau warf mir einen verstohlenen Blick zu, nahm das Kind auf den Arm und trug es in Richtung Haus. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht bis zu diesem Zaun gehen, Amanda. Rede nie mit den Kindern dort drüben. Nie, hast du mich verstanden?«
    Nie mit den verrückten Teenagern reden. Ich hätte zu gern hinter ihr hergebrüllt, dass wir nicht verrückt waren. Ich hatte ihre Tochter für einen Geist gehalten, das war alles.
    Ich fragte mich, ob es Ratgeberliteratur für dieses Problem gab.
Fünfzig Methoden, die Lebenden von den Toten zu unterscheiden, bevor man dich in eine Gummizelle steckt.
Ja, eine gutsortierte öffentliche Bibliothek müsste das eigentlich haben.
    Ich konnte nicht der einzige Mensch auf der Welt sein, der Geister sah. War das etwas, das man erbte, so wie blaue Augen? Oder etwas, das ich mir zugezogen hatte wie ein Virus?
    Es musste noch mehr solche Leute geben. Wie sollte ich es nur anstellen, sie zu finden? Konnte ich das? Sollte ich das überhaupt?
    Das Geräusch von Schritten teilte mir mit, dass jemand kam. Ein lebender Mensch. Das immerhin war etwas, das ich bereits gelernt hatte: Geister können brüllen, weinen und sprechen, aber sie machen kein Geräusch, wenn sie sich bewegen.
    Ich war immer noch hinter dem Schuppen und damit außer Sicht. Es war wie in dem Keller, nur dass hier niemand hören würde, wenn ich um Hilfe schrie.
    Ich stürzte vor, genau in dem Moment, als ein Schatten um die Ecke bog. Simon.
    Er kam mit langen Schritten näher, das Gesicht finster und wütend. Ich verspannte mich, blieb aber stehen, wo ich war.
    »Was hast du gesagt?« Die Worte kamen langsam und betont, als müsse er sich Mühe geben, seine Stimme ruhig zu halten.
    »Gesagt?«
    »Zu den Schwestern. Über meinen Bruder. Du hast ihn irgendeiner Sache beschuldigt.«
    »Ich hab den Schwestern überhaupt nichts …«
    »Dann war’s deine Tante.« Seine Finger trommelten gegen die Schuppenwand. »Du weißt genau, was ich meine. Du hast’s ihr erzählt, sie hat’s den Schwestern erzählt, und dann hat Dr. Gill Derek vor dem Mittagessen zu einer gesonderten Besprechung bestellt und ihn verwarnt:

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