Schattenstunde
»Wie spät ist es eigentlich?«
»Spät. Oder früh. Unwichtig. Ich brauche deine Hilfe, und du schuldest mir was. Zieh dich an und komm in fünf Minuten nach unten.«
Ich drehte mich auf der Ferse um und ging zurück zur Treppe.
Würde Derek mir folgen? Wahrscheinlich nicht, wenn man berücksichtigte, dass ich seine »Sei-in-fünf-Minuten-da«-Anweisung an diesem Nachmittag ignoriert hatte.
Ich hatte eigentlich vorgehabt, in der Tür stehen zu bleiben, bis er versprach, mir zu helfen. Aber ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass er bei unserer Unterhaltung beinahe nackt sein würde. Was mich außerdem daran erinnerte, dass ich selbst auch nichts anhatte außer einer Schlafanzughose und einem Top. Als ich ins Erdgeschoss kam, fand ich im Medienzimmer noch das Sweatshirt, das Rae heute Nachmittag dort ausgezogen hatte. Ich zerrte es mir über den Kopf, kehrte in den Gang zurück und wäre beinahe mit Derek zusammengestoßen.
Er trug Trainingshosen und ein T-Shirt und stand mitten im Gang, damit beschäftigt, sich heftig am Unterarm zu kratzen.
»Flöhe?«, fragte ich.
Es war ein zugegebenermaßen ziemlich lahmer Versuch, die Atmosphäre von vorhin etwas aufzulockern. Eigentlich fand ich auch, dass ich den finsteren Blick nicht verdient hatte.
»Bringen wir’s einfach hinter uns«, sagte er. »Ich bin nicht besonders gut drauf.«
Ich hätte mich jetzt erkundigen können, inwiefern sich das von seinem Normalzustand unterschied, aber ich biss mir auf die Zunge, winkte ihn ins Medienzimmer und schloss die Tür. Dann legte ich den Kopf zur Seite, um zu horchen.
»Alles okay hier drin«, sagte er. »Wenn jemand kommt, werd ich’s hören.«
Ich ging durch den Raum zu einem Fleck Mondlicht hinüber. Als er mir folgte, konnte ich ihn zum ersten Mal wirklich sehen. Er war bleich, aber seine Wangen waren brennend rot, was nicht an seiner Akne lag. Schweiß klebte ihm das Haar ringsum ans Gesicht, seine Augen glänzten und waren rot gerändert. Er schien Mühe zu haben, mich gerade anzusehen.
»Du hast Fieber«, sagte ich.
»Möglich.« Er schob sich das Haar nach hinten. »Hab wohl irgendwas Komisches gegessen.«
»Oder dir ein Virus eingefangen.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich …« Er zögerte, dann sprach er entschlossen weiter. »Ich werde nicht krank. Jedenfalls nicht oft. Gehört zu meiner … Diagnose. Das hier scheint irgendeine Reaktion zu sein.« Er kratzte sich wieder am Arm. »Nicht so wichtig. Ich bin einfach neben der Spur. Motziger als sonst, würde Simon sagen.«
»Du solltest lieber wieder ins Bett gehen. Vergiss das hier.«
»Nein, du hast recht. Ich schulde dir was. Was brauchst du?«
Ich hätte gern widersprochen, aber ich merkte ihm an, dass er seine Entscheidung getroffen hatte.
»Moment«, sagte ich und rannte wieder hinaus auf den Gang.
Er zischte ein gereiztes »Chloe!« hinter mir her, gefolgt von einer Reihe halbherziger Flüche, als brächte er nicht die nötige Energie auf, um mich wirklich zu verfluchen.
Ich kam mit einem Glas kaltem Wasser zurück, das ich ihm zusammen mit vier Tylenoltabletten hinstreckte.
»Zwei für jetzt, zwei für später. Nur für den Fall, dass du sie …«
Er warf sich alle vier in den Mund und schüttete die Hälfte des Wassers hinterher.
»Eine andere Möglichkeit wäre natürlich, sie alle gleich jetzt zu nehmen.«
»Ich habe einen hohen Grundumsatz«, sagte er. »Gehört auch zu meiner Diagnose.«
»Ich kenne eine Menge Mädchen, die sich darüber nicht beschweren würden.«
Er grunzte etwas Unverständliches und leerte das Glas ganz. »Danke, aber …«, er fing meinen Blick auf, »du brauchst nicht nett zu mir zu sein, bloß weil ich mich nicht toll fühle. Du bist sauer. Du hast jedes Recht dazu. Ich hab dich benutzt und es noch schlimmer gemacht, indem ich so getan habe, als wär’s nicht so. Wenn ich du wäre, würde ich mir kein Wasser holen, außer um’s mir über den Kopf zu kippen.«
Er wandte sich ab, um das leere Glas auf einem Tisch abzustellen. Ich war sehr froh darüber, dass er sich abwandte, denn ich war mir ziemlich sicher, dass mir die Kinnlade heruntergefallen war. Entweder hatte ihm das Fieber geradewegs aufs Hirn geschlagen, oder ich schlief immer noch und träumte das hier. Denn das gerade Gesagte hatte sich verdächtig nach einem Schuldeingeständnis angehört. Vielleicht sogar nach einer Entschuldigung auf Umwegen.
Er wandte sich mir wieder zu. »Okay, und du brauchst also?«
Ich winkte ihn zu
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